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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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scharf und sticht in der Brust, die sich zusammenzieht, bis es nicht mehr enger geht. Was ist das bloß? Sie schnappt nach Luft, ihr wird schwindlig. Ihre Augen brennen, und sie kann alles nur noch wie durch einen schwarzen Schleier sehen. Der Zug bremst, und ohne dass sie es will, rollt sie den Gang hinunter, auf den Mann im Ledermantel zu.
    »Nicht, Kind!«, ruft eine der beiden Nonnen, die schwankend aufsteht und Shirin ansieht, »nicht, komm weg da, Kind!« Sie packt Shirins Arm und zerrt sie hinter sich her, fort von dem Mann, zurück zu der Tür im hinteren Wagenteil. Der Mann hat die Arme ausgebreitet. Er zittert und zuckt und brennt. Mit zurückgeworfenem Kopf bricht er in die Knie. Es ist auf einmal schrecklich heiß und stickig in dem Waggon. Das letzte Stück schleppt die Nonne Shirin mit über den Boden schleifenden Skates. »Leg dich hin«, keucht sie, »schau nicht auf!« Sie wirft sich neben Shirin, deckt sie mit ihrem eigenen Körper zu.
    Yassim. Mama. Yassim!
    Hier an der Türritze kann man atmen, der Fahrtwind streicht Shirin über den Hals, und sie hört das Rattern der Räder auf den Schienen, aber das Schreien der anderen Leute hört sie nicht mehr. Sie hebt den Kopf, um zu sehen, was mit ihnen passiert ist. Sie entdeckt den Punker, der unter einer Bank liegt und den Kopf zurückgeworfen hat. Kein Laut dringt aus seiner Kehle, nur die Zunge in dem aufgerissenen Mund blutet. Dahinter sieht Shirin die drei Mädchen, die jetzt nicht mehr kichern, sondern aneinandergeklammert zwischen den Sitzen kauern. Auch sie geben keinen Laut von sich.
    Kein Ruf, kein Schrei, nur ein unheimliches Scharren, Stöhnen und Keuchen. Und das Kreischen der Bremsen. Und das Rattern der Räder auf den Schienen. Und da – ein Klicken! Der Sicherheitsmann hat seine Pistole auf den Mann gerichtet und drückt ab. Nichts passiert. Der Hammer schlägt bloß klickend auf die Kammer. Er legt einen Hebel an der Waffe um, aber auf einmal reicht seine Kraft nicht mehr aus, die Pistole fällt ihm aus der Hand. Er bückt sich, um sie aufzuheben, greift ins Leere, bückt sich noch tiefer und greift noch einmal ins Leere. Er verliert das Gleichgewicht und rutscht an der Tür herunter, langsam, als wäre er aus Knetmasse, die an der glatten Fläche nicht halten will. Eine Hand hat er in den Hemdkragen geschoben, unter dem alles rot ist, die ganze Uniformjacke und das Hemd.
    Und da, ein Flüstern dicht an Shirins Ohr: »Lieber Herr Jesus, hilf uns, sieh her und hilf uns in der Stunde unserer Not, hilf diesem Kind an meiner Seite, hilf unserer Schwester Bonita und vergib mir, vergib uns, unsere Sünden, unsere …« Shirin sieht die andere Nonne auf sie zukriechen, bis die Kraft Schwester Bonita verlässt und sie einfach liegen bleibt, mit dem Gesicht auf dem schmutzigen Boden. Diesmal sieht Shirin kein Blut.
    Die Männer mit den Aktentaschen tippen verzweifelt auf den Tasten ihrer Handys herum, die Frauen auch. Zwei oder drei pressen ihre Köpfe gegen das Fenster des dahinrasenden Zuges, und noch immer ist draußen alles dunkel, die nächste Station nicht in Sicht. Sie erblicken nur ihre eigenen verzerrten Gesichter, während sie mit nachlassender Kraft an den Scheiben kratzen.
    Und da, Shirin spürt den zitternden Körper der Nonne und hört sie um Luft ringen. »Herr Jesu, Herr Jesu, sei bei uns, Herr Jesu, sei bei uns.« Dann lauter: »Schau nicht hin! Schau nicht hin, Kind!« Aber auch wenn alles in Shirins Brust zu brennen scheint, sie kann nicht aufhören hinzuschauen, staunend, gebannt vom Anblick der Menschen, die sich gegenseitig mit Ellbogen und Fäusten beiseitestoßen oder übereinander hinwegtrampeln oder auf die Knie sinken oder einfach zur Seite kippen oder sich auf dem Boden winden oder auf die Türen zukriechen, langsam wie Schnecken.
    Shirin hört sie wimmern und scharren und stöhnen. Sie sieht die Gesichter: den Punker, die Jugendlichen mit den Handys, die Geschäftsleute, die toten Mädchen in den Sommerkleidern. Sie sieht die weiße Ratte, die auf der anderen Seite des Gangs liegt, die dünnen rosigen Beinchen steif von sich gestreckt. Sie denkt, dass es jetzt nicht mehr lang bis zur nächsten Station dauern kann und dass dort die Türen aufgehen werden, und vielleicht erwachen dann alle wieder zum Leben, nur die Ratte ist zu klein, die Ratte wird es vielleicht nicht schaffen, und deswegen zwängt Shirin sich unter der Nonne hervor und kriecht zu der Ratte.
    Ihr ist so übel, als müsste sie jeden Augenblick auch
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