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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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das Leben der Patientin!«
    Die Schwester blickte hilflos von Julian, dem Operateur, zu Fleming, ihrem Direktor, und wieder zurück. Ihre Augen waren groß, in Panik.
    »Strom!«
    Nichts geschah. Der Fuß der Schwester stand bewegungslos neben dem Pedal.
    »Strom, verdammt nochmal!«, rief Julian. »Spülen, absaugen und dann verkochen!«
    »Kein Strom, Schwester!«, befahl Fleming. »Spülen Sie, und dann sehen wir …«
    Erneut spülte Wasser unter dem Mikroskop. Da waren wieder die Blutungen, eins, zwei, jeder dieser Blutstöße bedeutete, dass die Patientin schwächer wurde, dem Tod weniger Widerstand entgegensetzen konnte.
    »Links oben!«, sagte Ella, jetzt absolut ruhig. »Ganz sicher links oben!«
    Julian rutschte vom OP-Hocker und trat selbst auf das Pedal für die Stromzufuhr, wobei er die Blutungen nicht aus den Augen ließ. Rasch führte er den Kauter nach links oben, wo die größere der beiden Adern zuckte. Dünner Rauch stieg auf, als die elektrische Pinzette zuschnappte. Sie erwischte die Ader genau in der Sekunde, in der sie am weitesten von Kleinhirnschlagader und Hirnstamm entfernt war. Die Blutung stand sofort. Gleich danach wandte Julian sich der gerissenen Brückenvene zu. Ein weiteres Zupacken, gefolgt von grauem Rauch, und auch die zweite Ader war verschlossen.
    Wieder sagte Julian: »Spülen und absaugen«, und noch während er die Instrumente aus dem Präparationskanal zog, geschah es: Das Pochen des Herzschlags beschleunigte sich, und die Pieptöne eilten fast fröhlich hinterher. Ella schloss die Augen, einen Moment war ihr fast schlecht vor Erleichterung. Sie wandte den Blick vom Monitor, denn auf einmal kam ihr der Blick auf Annikas Gehirn indiskret vor, jetzt, wo langsam wieder bewusstes Leben in ihre Zellen zurückkehrte.
    »Licht!«, befahl Julian. Die Neonlampen an der Saaldecke flammten auf. Er trat einen Schritt zurück. Bei seinem Anblick musste Ella an einen Marathonläufer denken, der kurz vor dem Ziel war, durstig, erschöpft und doch voller Adrenalin. Er sah sie mit den Augen eines solchen Läufers an, die immer noch nicht in der Lage waren, sich auf kürzere Distanz einzustellen. »Dr. Bach, machen Sie sich bitte steril und helfen Sie mir, die Patientin wieder zu verschließen.«
    Fleming erhob sich langsam von seinem Hocker hinter dem Kontrollpult. Er war blass, sein Mund schmal vor Enttäuschung. »Meinen Glückwunsch, Auster«, sagte er heiser, »das war … das war großartig. Bitte, entschuldigen Sie mich … Ich muss … Ich hoffe, Sie glauben nicht …« Mit schleppenden Schritten steuerte er die Schwingtür zum Vorbereitungsraum an, in dem es plötzlich von uniformierten Polizeibeamten wimmelte.
    Einer der Polizisten ging auf DI Cassidy zu, der ihn mit einer abwehrend ausgestreckten Hand auf Distanz hielt. Überraschend behende bückte Cassidy sich nach dem Skalpell, das Ella fallengelassen hatte. Er kam wieder hoch, und Ella sah nur ein verwischtes Blinken, als er sich damit die Kehle durchschneiden wollte. Doch der Polizist war schneller. Er fiel dem Detective Inspector in den Arm, und eine Minute später führten zwei der Beamten Cassidy aus dem Raum. Schade, dass Anni das nicht sehen kann, dachte Ella.
    »Ella? Sind wir so weit?«, fragte Julian.
    »Ja«, sagte Ella. »Alles andere später?«
    »Alles andere später«, bestätigte er, und es kam ihr vor, als wäre sie das Ziel, auf das er die ganze Zeit zugelaufen war.

6 9
    Der Strom kehrte in dem Moment zurück, als der Mann in dem blauen Kittel von Halil Abou-Khan und seinen Söhnen hingerichtet wurde. Plötzlich hatten alle, die darauf warteten, dass der Livestream weiterging, wieder ein Bild. Ella verließ den OP und zog gerade die sterilen Handschuhe aus, als sie Cassidys verwaistes Smartphone auf dem Instrumententisch entdeckte.
    »Was habt ihr vor?«, hörte sie Sascha fragen. Seine Stimme klang verzerrt. »Wo bringt ihr mich hin?«
    »Du wollest doch sterben.« Das war die Stimme von Halil. »Wir bringen dich dorthin, wo du sterben wirst.«
    Ella warf einen Blick auf das Display des Handys. Sie sah nur blaue Schatten, und es dauerte ein paar Sekunden, bis sie begriff, dass es sich um den Stoff des Kittels handelte, in dem das Handy steckte. Das erklärte auch die anderen Geräusche, das Rascheln, Knistern und Scharren. Es gab noch mehr zu hören: Männerstimmen, die sich auf Libanesisch verständigten, ferne Sirenen, Lautsprecherdurchsagen, Füße, die auf Betonboden trampelten. Wieder Saschas Stimme:
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