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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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aus dem Reptilienfonds.«
    »Ich gehe dichter an den Hirnstamm«, sagte Julian jetzt. Und dann, etwas schärfer: »Hat die Anästhesie auf Autopilot geschaltet, Dr. Fleming?«
    Fleming atmete noch heftiger. »Ich wollte nur …«
    »Ich arbeite an der Hirnschlagader«, sagte Julian. »Meinen Sie nicht, da könnte es hilfreich sein, wenn jemand auf die Instrumente schaut?« Er fing an, mit der winzigen Dissektorspitze kleine Portio nen des Blutkuchens zu entfernen. Mit jeder Berührung trug er etwas von dem lebensgefährlichen Druck ab. Immer wieder ver schwanden kleinste Gewebepartikelchen im Silberrüssel des Saugers. Er befand sich tief in der Höhle des Hämatoms. Ein Millimeter zu weit nach links, ein haarfeiner Riss in der Hirnschlagader, und das Blut würde aus der Schädelöffnung schießen. Ein Millimeter zu weit nach rechts, ein Kratzer am Hirnstamm, und Annika würde nie wieder erwachen.
    Bitte, dachte Ella, bitte, lieber Gott! Obwohl sie seit Stunden auf den Beinen war, verspürte sie keine Müdigkeit. Sie war überwach, als hätte sie sich Amphetamine gespritzt. Ihre Haut war so durchlässig geworden, dass sie mit den darunterliegenden Nerven nicht nur fühlen, sondern sehen zu können glaubte, und ihre Augen sondierten scharf wie das OP-Mikroskop.
    Plötzlich wurde ihr schwindlig; das Bild auf dem Monitor schien den ganzen Raum auszufüllen, und sie hatte das verrückte Gefühl, nach oben zu fallen, den langen Schacht in den offen vor ihr liegenden Schädel hinauf. Sie schluckte, holte tief Luft. Hielt den Atem an. Als sie sich wieder gefangen hatte, sah sie, dass Julian inzwischen den größten Teil des Blutgerinnsels an der unteren vorderen Kleinhirnschlagader abgetragen hatte; die letzten Reste hingen nur noch wie eine bröckelige Kruste an der unverletzten Ader. Nur noch ein paar Minuten, und es war geschafft; der Druck auf Annikas Hirnstamm würde schnell nachlassen.
    Wenn etwas schiefgehen sollte, dann musste es jetzt passieren. Ella konzentrierte sich mit aller Kraft auf ihre Gedanken. Glaubst du wirklich, sie lassen mich am Leben, wenn du Annika tötest?, dachte sie. Glaubst du, sie lassen irgendjemanden von uns am Leben?
    Der Dissektor streifte über die Hämatomkruste, berührte sie unmerklich, ein zarter silberner Flügel. Ein Flügel, der flatterte. Die Konturen des feinen Instruments verschwammen für Sekunden.
    Er zittert wieder.
    Plötzlich war alles unter dem Mikroskop dunkelrot. Blut schoss in den Lichtstrahl, rann in Nischen und Krater, quoll wieder daraus hervor und stieg und stieg. Glitzernd umspülte es die Arme der Spatel, die Brückenvenen und die Kleinhirnwindungen, spritzte auf den Dissektor. Das Pochen des Herzschlagverstärkers wurde langsamer. Der Piepton setzte aus – einmal, zweimal.
    Was ist das?, Ella hatte das Gefühl, ihr eigenes Herz bliebe stehen. Wo kommt das ganze Blut her?
    »Julian!« Es war wie bei Shirin, das Blut, das plötzlich kam, und niemand wusste, woher.
    »Was ist los?«, rief Fleming, jetzt wieder von seinem Platz hinter dem Kontrollpult, in perfekt gespieltem Entsetzen. »Um Himmels willen, was ist passiert, Dr. Auster?«
    Wie gelähmt starrte Julian durch das Mikroskop. Er wagte nicht, sich zu bewegen, denn in dem strudelnden Blut war der Dissektor immer noch nicht klar zu erkennen. Wo kommt bloß das Blut her? , dachte Ella. Er hat das Hämatom doch nur berührt, es war keine Absicht. Es kann keine Absicht gewesen sein! Schweiß rann ihr von der Stirn über die Lider in die Augenwinkel und von dort kitzelnd weiter über die Wangen unter den Mundschutz. An den Wimpern hatten sich winzige funkelnde Tröpfchen gebildet.
    Fleming klopfte mit der flachen Hand auf die Armaturen seines Kontrollpults, als könnte es sich um einen technischen Defekt handeln. Dabei schickte er einen ebenso gut gespielten Blick äußerster Besorgnis zum Vorbereitungsraum hinüber.
    »Spülen, schnell!«, sagte Julian leise. Die Springschwester trat das Pedal, und ein Wasserstrahl ergoss sich in den Präparationskanal, rollte über Kleinhirn, Spatel und Brückenvenen. Das dunkelrote Blut wurde zinnoberfarben, dann rosa. Mit einem scharfen Gurgeln saugte das Silbermundstück des Gummischlauchs Blut und Wasser ab. Das Sichtfeld klärte sich. Sekundenkurz glaube Ella, den Ursprung des Blutstroms ausgemacht zu haben, aber dann verwandelte sich das Schädelinnere wieder in einen brodelnden roten See.
    »Spülen und absaugen!« Julians Stimme klang, als drückte ihm jemand die Kehle
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