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Der gute Liebhaber

Der gute Liebhaber

Titel: Der gute Liebhaber
Autoren: Steinunn Sigurdardóttir
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Ein Reisender
    Kein Traum. Hellgrüne Hügel reihten sich am Horizont längelang aneinander – dem Meeresgrund entstiegen, stand in dem Buch. Eine Stunde Fußweg von dem Strand entfernt, den Lotta genau nach seinen Wünschen ausgesucht hatte: gelber Sandstrand, wenig frequentiert, gern auch abgeschieden. Und er war wirklich abgeschieden, eher verlassen als wenig frequentiert, und mehr als gelb, mit anderen Worten golden.
    Der Reisende ließ sich nieder und betrachtete tausend auferstandene Hügel unter sausenden Wolken wie ein Menetekel aus der Bibel. Er zog sich die kurze Hose aus, als der Himmel bei strahlendem Sonnenschein seine Schleusen öffnete, schlief regennass ein und wachte trocken auf – sah sich verwundert an, völlig nackt auf dem einstigen Meeresgrund. Ein plappernder Papagei hatte ihn geweckt, der sich zu seinen Füßen vorbeugte und jetzt bedeutsam schwieg, wie ein Sendbote, der darauf wartet, dass man ihm das Wort erteilt.
    Die Sonne war verschwunden, als er wieder zum Strand zurückkehrte. Er ließ sich bei einer Düne nieder, vergrub die Zehen im rieselnden Goldsand und vergaß alles um sich herum. Dabei blickte er unverwandt aufs Meer, das bei Sonnenlosigkeit die Farbe des Himmels annahm. Lange Zeit war niemand zu sehen, doch dann tauchte ein Mann auf einem Fahrrad am Spülsaum auf. Das würde er morgen auch machen, ein Fahrrad mieten und sich dreißig Kilometer vornehmen, zweimal hin und zurück auf dem langen Spiegel zwischen Himmel und Meer.
    Kurz nach Mittag ging er dorthin, wo der Strand endete, aß einen feuerroten Fisch in einer Bambushütte und trank Weißwein von der Loire dazu. Dass etwas aus dem Loire-Tal sich hierher verirrt hatte! Die Sonne kam wieder und stürzte sich mit aller Kraft auf die pechschwarze Felseninsel jenseits eines schmalen Sunds. Auf dem Rückweg betrachtete er amüsiert kleine Steine, die Schattenstriche auf den Sand warfen.
    Den Rest des Tages wollte er damit verbringen, abwechselnd zu schwimmen und sich in den Sand zu legen, unabhängig davon, welche Wege Sonne und Wolken einschlugen. Gegen Abend würde er sich auf den Balkon setzen und zusehen, wie der schwache Widerschein des Mondes quer übers Meer glitt. Sich nicht vom Fleck rühren, auf dem Balkon zu Abend essen. Sich vom Meeresrauschen einschläfern lassen. Viel später.
    Die ersten Male, als er zu einem Strand in einem fernen Land fuhr, war ihm bewusst gewesen: Ich bin allein. Das war vorbei. Doch hinter jeder Stunde, die er allein mit sich selbst existierte, vor allem am Strand, lagen Stunden mit Küssen und Musik, während des Winters, und über das Frühjahr hinaus bis zum Hochsommer, und obwohl sie nicht nur gründlich, sondern auch schon lange vergangen waren, nahmen dort neue Stunden ihren Anfang, erhielten ihr Daseinsrecht.
    Künftiges reizte ihn nicht, so gesehen lebte er in der Gegenwart, und irgendetwas, was Zukunft hieß, ging ihn nichts an. Er war frei von Hast, frei von Ungeduld – alles, was er brauchte, war in Reichweite, war gegenwärtig. Manche Leute sagten, dass es gut war, in seiner Nähe zu sein, vor allem die Liebhaberinnen, und das taten sie, weil er keinem bestimmten Ziel zustrebte. Infolgedessen war es nicht seine Art, Reisepläne zu ändern, und schon gar nicht aus heiterem Himmel.
    Deshalb stellte Lotta ganz entgegen ihrer Gewohnheit direkte Fragen, als er sie im Zwielicht vom Strand aus anrief, um ihr zu sagen, er müsse so schnell wie möglich nach Reykjavík. Sie fragte: Wieso das denn?

Enorme Kälte in und über der Stadt an einem Februarmorgen zur Aufstehenszeit und am kältesten das Meer um das steifgefrorene Eiland mit wenigen Lichtern am pechschwarzen Gestade. Ein so abweisendes schwarzblaues Meer, dass der Reisende am Ufer Mitgefühl mit den Fischen verspürte, die dort leben mussten, denn er konnte nicht begreifen, wie irgendeine Kreatur in diesen Tiefen warm zu bleiben vermochte, gleichgültig, wie kalt das Blut war. Der Reisende wusste, dass ein Mensch mit warmem Blut im Meer vor seiner Geburtsstadt nur kurz überleben konnte. Nach Aussagen derer, die ihm entgangen waren, war der Tod im Meer angenehm.
    Eine Flotte von völlig ausgekühlten Autos stand vereist in der Stadt und harrte der Kinder und Erwachsenen, die sich nun in den Hausdielen sämtlicher Stadtviertel einfanden, um sich für das kurze Stück zum Auto zu vermummen. Winterstiefel aller Größen waren im Begriff, an den Füßen ihrer rechtmäßigen Besitzer zu landen, einige
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