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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Mann in dem blauen Kittel im Keller gewesen war, musste er die Treppe nehmen. Oder gab es einen Lift, der vom Notstromgenerator betrieben wurde, genau wie die Lämpchen an den Wänden und die lebenserhaltenden Instrumente?
    Er hörte einen Laut am Ende des Korridors. Es klang wie ein Husten oder ein Schlurfen. Die plötzliche, ungewöhnliche Stille musste einen der Patienten geweckt haben. Halil ging auf die Tür am Ende des Gangs zu, und da sah er schon die Schatten hinter der Milchglas scheibe, und er öffnete die Tür, und erst tröpfelten die Menschen nur einzeln oder in kleinen Gruppen durch die Korridore auf die Treppenhäuser zu, aber schnell wurde ein Strom daraus – Männer, Frauen und Kinder, einige fast vollständig angezogen, aber die meisten noch in Kitteln oder Schlafanzügen, manche mit Infusionsständern ne-ben sich.
    Kinder weinten, umklammerten Stofftiere oder die Hand eines Erwachsenen. Pfleger schoben Patienten in Rollstühlen auf die Liftkabinen zu oder schleppten Tragen über die Gänge. Schwestern trugen Neugeborene und Kleinkinder die Treppen hinunter, Ärzte stützten alte Leute, Nachzügler schlurften in Gummischlappen hinterher. Wer hat sie geweckt, fragte sich Halil; folgen sie einem Instinkt, wie Tiere, die eine Katastrophe wittern?
    Er ging langsam neben ihnen her, tat, als rede er mit sich selbst, befingerte die Perlen der Gebetskette in seiner rechten Hand und sah dabei doch in jedes Gesicht, blickte auf die Schuhe und Hände. Seine linke Hand steckte in der Jackentasche, wo sie ein Springmesser hielt.
    Der Mann trug eine rote Sporttasche und einen blauen Kittel wie die anderen Ärzte auch. Er trat aus einer Eisentür neben den Fahrstühlen und mischte sich unter die Patienten, die der Empfangshalle im Erdgeschoss zustrebten. Er blickte starr geradeaus. Er hielt die Sporttasche in der linken Hand, die rechte steckte in der Kitteltasche. Selbst jetzt hätte Halil den Mann beinahe nicht erkannt, obwohl er ihn eben noch auf seinem Handy gesehen hatte. Im Netz sahen Menschen anders aus als in Wirklichkeit.
    Er ließ den Mann nicht aus den Augen, seine Bewegungen, die Hand in der Tasche, die Sporttasche. Was ist in der Tasche?, dachte er. Er umklammerte sein Messer, legte den Daumen an den Knopf, der die Klinge aus dem Heft springen ließ. Was hat er vor? Warum schlägt er nicht zu? Dann wusste er es: das Foyer. Dort mussten sich die Patienten stauen, denn die Türen waren immer noch geschlossen.
    Vorsichtig, um keine Panik auszulösen, arbeitete Halil sich auf den Mann zu. Dabei brabbelte er halblaut kurdische Flüche vor sich hin. Als er sah, dass der Mann geradewegs auf die Treppe zum Ergeschoss zusteuerte, ging er etwas schneller, um vor ihm dort zu sein. Zwischen ihnen befand sich ein Pulk von Patienten und Klinikpersonal, die ihm den Weg versperrten. Er versuchte, einen Pfleger zu überholen, der ein Bett mit quietschenden Rädern auf den Fahrstuhl zuschob. Er sah alles, und er hörte alles: das Schlurfen der Füße, ein keuchendes Husten, das ängstliche Weinen eines Kindes.
    Der Mann blickte nicht in seine Richtung. Er war blass, die Haut feucht. Die rechte Hand steckte noch immer in der Kitteltasche, zur Faust geballt. Er hält etwas in der Hand, dachte Halil, vielleicht ein Fläschchen mit dem giftigen Zeug, das uns alle töten kann, meine Schneeflocke und meine ganze Familie. Ohne den Mann aus den Augen zu lassen, schob er sich zwischen eine alte Frau und eine Schwester, drängte ein kleines Mädchen beiseite, fort von der Gefahrenquelle. Bis zur Treppe waren es noch ungefähr zehn Meter.
    Der Mann zog die rechte Hand aus der Kitteltasche.
    Halils Finger umschlossen das Messer, aber gerade als er es herausholen wollte, stellte er fest, dass die Hand des Mannes leer war. Er rückte nur sein Brillengestell zurecht. Dann hob er die Sporttasche vor die Brust und tastete nach dem Reißverschluss.
    Halil schaute sich um, so unauffällig wie möglich. Hielt Ausschau nach Rashid, nach einem seiner Söhne, nach irgendjemandem von seiner Familie. War es ein gutes Zeichen, dass er keinen von ihnen sah? Er lauschte angestrengt, und da hörte er es – unter all den anderen Geräuschen hörte er den Ruck, mit dem ein Reißverschluss aufgezogen wurde. Er stieß einen Pfleger, der vor ihm ging, zur Seite und riss das Messer aus der Jackentasche. Ließ die Klinge hervorschnellen
    In diesem Moment bemerkte der Mann ihn. Es waren noch drei Meter bis zur Treppe, als der Mann losrannte und dabei
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