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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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etwas aus der Sporttasche zu ziehen versuchte. Er hat eine Pistole in der Tasche. Nein. Eine Bombe oder einen Behälter mit Gift.
    »Weg da, zur Seite!«, brüllte Halil die Leute rings umher an, »verschwindet, macht, dass ihr wegkommt!«
    Köpfe fuhren herum; jemand schrie. Eine Frau begann zu rennen. Ein Kind stolperte und fiel. Halil sprang über das Kind hinweg und prallte gegen eine Schwester, die nicht rechtzeitig ausweichen konnte. Ein Mann packte das weinende Kind am Kragen, zerrte es hinter sich her. Die ersten Patienten warfen sich zu Boden.
    Der Mann hatte die Treppe erreicht und versuchte immer noch, das Etwas aus der Sporttasche zu ziehen. Halb vorgebeugt blieb er auf der obersten Stufe stehen, aber Halil hatte einfach keine freie Bahn, um das Messer zu schleudern. Da tat sich links von ihm eine Lücke auf, und in dieser Lücke stand Shirin, einen Treppenabsatz von dem Mann entfernt. Sie stand nur da, Hand in Hand mit Yassim, und beobachtete den Mann in dem Arztkittel mit der roten Sporttasche über ihr.
    »Shirin, lauf weg!«, rief Halil. Er hörte die Angst in seiner Stimme. Jetzt entdeckte er auch Nerin und Amal, die einige Meter hinter Shirin standen, ebenfalls erstarrt. Was macht ihr hier? In Gedanken tobte er. Warum seid ihr nicht mit ihr im Zimmer geblieben, wie ich es euch befohlen habe? Das Messer in der rechten Faust, sprang er die Stufen hinunter, fast bis zum ersten Treppenabsatz. Dort packte er seine Tochter, hob sie mit einem Arm hoch wie eine Puppe und richtete gleichzeitig das Messer auf den Mann, bereit, es zu schleudern wie einen Blitz.
    Als der Mann das sah, nahm sein Gesicht einen seltsamen Ausdruck an, halb wütend, halb flehend. Dann schüttelte er den Kopf, fast bedächtig und irgendwie enttäuscht. »Ich werde alle töten«, schrie er, griff in die rechte Kitteltasche und holte eine kleine braune Phiole hervor, die er über seinen Kopf hob. »Wir müssen alle sterben!«
    Halil hielt seine Tochter immer noch unter dem linken Arm. »Rashid!« Er spürte, dass Shirins Patenonkel hinter ihm auftauchte, und ohne hinzuschauen, wandte er ihm die linke Seite zu, sodass Rashid das Mädchen entgegennehmen konnte. Shirin begann zu zappeln, ihr kleiner, schlanker Körper war ein Bündel angespannter Muskeln. Sie rutschte unter Halils Arm hervor und entwand sich den Händen ihres Patenonkels, genau in dem Moment, in dem der Mann in dem blauen Kittel seine Sporttasche fallen ließ und die Phiole hoch in die Luft warf, so hoch, dass er Zeit hatte, ihrem Flug staunend mit zurückgeneigtem Kopf zu folgen, wie sie ihre Flugbahn beschrieb.
    Halil achtete nicht mehr auf den Mann, nur noch auf die Phiole; er sah sie fallen, schnell und wie in Zeitlupe zugleich. Er schrie: »Weg! Alle weg!«, und stürzte auf die Phiole zu, ich bin ein alter Mann, um mich ist es nicht schade . Aber noch während er lief, wusste er, dass er zu spät kommen würde. Das Fläschchen würde vor seinen Augen zerplatzen, und niemand hatte eine Chance, alle würden von dem Inhalt besprüht werden.
    Da flitzte an seinen Beinen ein farbiger Schatten vorbei, mit ausgestreckter Hand und flatterndem Nachthemd, und die winzige ausgestreckte Hand fing die Phiole einen Sekundenbruchteil, bevor sie auf die Stufen schlug. Fing sie und hielt sie fest, als wäre es nichts, eine Kleinigkeit.
    »Shirin!«, ächzte Halil. »Vorsicht, Schneeflocke, nicht fallen lassen!«
    »Du weißt doch, dass ich gut fangen kann, Papa«, sagte Shirin und war nicht mal außer Atem.

6 8
    Julian starrte durch das Mikroskop, als wäre er damit verwachsen. Ella konnte spüren, wie er fieberhaft überlegte. Sie konnte sogar seine Gedanken lesen: Was habe ich verletzt? Woher kommt das Blut? Es sind zu viele Äderchen. Alle wichtig, für den Hirnstamm, für die Blutversorgung, ein ganzes Netzwerk von winzigen Äderchen, hauchdünne Pipelines zwischen Kleinhirnschlagader und Hirnstamm. Habe ich eine von denen geöffnet? Dann sterben in dieser Sekunde Tausende lebenswichtiger, unersetzlicher Zellen; dann stirbt meine Patientin hier und jetzt unter meinen Händen.
    Und Ella dachte dasselbe, fragte sich, ob es sich um eine Anomalie handeln konnte, das Entsetzlichste, was einem Chirurgen bei der Operation passieren konnte – etwas, das nicht da sein sollte? Sie starrte auf den Monitor und hätte am liebsten geschrien, mit ihrem Schrei das Blut geteilt und die Quellen gezwungen, sich zu zeigen. Alles, was vorher gestochen scharf gewesen war, verschwand unter den roten
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