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Kalte Haut

Kalte Haut

Titel: Kalte Haut
Autoren: Marcel Feige
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PROLOG
    Weit nach Mitternacht, die Gespräche in den Gärten und auf den Balkonen waren längst verstummt, die Lichter in den Häusern erloschen, zwängte eine Ratte ihren fetten, behaarten Körper aus der Kanalisation.
    Schnell suchte sie Schutz unter den Sträuchern am Straßenrand. Dort stellte sie sich auf die Hinterbeine und reckte ihre spitze Schnauze in den Wind, der ihr den Duft gebratener Koteletts in die Nase trieb. Ihre Lefzen begannen aufgeregt zu zittern. Sie machte einen Satz und trippelte flink über den Bürgersteig, wobei sie die hellen Lichtkegel der Straßenlaternen mied.
    Vor dem alten Backsteinhaus am Ende der Straße wurde der Fleischgeruch intensiver. Alle Vorsicht vergessend wühlte sich die Ratte durch ein Blumenbeet. In der Dunkelheit entdeckte sie die Umrisse einer Mülltonne, unter deren schiefem Deckel neben schimmeligem Obst und Kartoffelschalen auch Fleischreste hervorquollen. Gierig setzte die Ratte zum Sprung an –mit einem Knirschen brachen ihre Knochen, als ein Mann mit seinem schweren Stiefel auf sie trat.
    Als würde er eine glühende Zigarettenkippe austreten, zermalmte er die Ratte unter seiner Schuhsohle.
    »Und tot bist du«, sagte er, während er zufrieden den Klumpen aus Blut und Eingeweiden betrachtete. Dann eilte er zur Haustür und mühte sich mit dem Schloss ab, erst nach einer knappen Minute gab es den Weg in die Loggia frei. Der Mann lauschte. Stille. Niemand war erwacht. Er drückte die Tür zurück in den Rahmen und ging zur Treppe, die ins Obergeschoss führte. Eine der Stiegen knarzte, als er seinen Fuß daraufstellte. Er blieb stehen. Sekunden verstrichen, ohne dass sich etwas im Haus regte. Während er seinen Weg nach oben fortsetzte, bemerkte er, dass noch Reste des Rattenblutes an seiner Stiefelsohle klebten. Es sickerte in den hellen Sisalbelag, mit dem die Treppe ausgelegt war. Wie nachlässig von ihm! Aber es war nicht mehr zu ändern.
    Oben gingen fünf Türen von dem schmalen Flur ab, eine zum Bad, eine zum Schlafzimmer, zwei zu den Kinderzimmern. Hinter der letzten Tür, die der Treppe schräg gegenüberlag, befand sich eine winzige Abstellkammer, in der allerlei unnützer Plunder verstaut war: Babyspielzeug, zerschlissene Kinderkleidung, sogar ein zusammengefalteter, löchriger Plastikswimmingpool, der seit Jahren nicht mehr benutzt worden war.
    Was für ein Chaos. Die Tür zum ersten Kinderzimmer war nur angelehnt. Lächelnd stieß er sie auf.
    Das seidige Dämmerlicht einer Schlummerlampe umschmeichelte das Gesicht des Jungen, der in dem Bett schlief. An der Wand über ihm hingen mehrere gerahmte Bilder. Auf einem der Fotos war der große Bruder des Jungen zu erkennen. Ein anderes zeigte die beiden Jungen zusammen mit ihrer Mutter. Außerdem gab es Poster von Flugzeugen, deren Modellnachbauten sich in einer Vitrine reihten: ein Segelflieger, mehrere Boeings, zwei Düsenjets, ein Rosinenbomber.
    Auf Zehenspitzen schlich der Mann um ein Airport-Set und weitere Plastikflieger herum, die auf dem Teppichboden verstreut lagen. Als er vor dem Bett stand, beugte er sich über das Kind. Unter der Decke, die der Junge sich bis ans Kinn gezogen hatte, zuckte es. Wovon er wohl träumte? Vielleicht von Ratten. Mit einem Schmunzeln streckte der Mann die Hand nach dem Kind aus. Liebevoll strich er ihm übers Haar.
    »Und tot bist du«, flüsterte er.
     
    Die Stimme, die das einlullende Motorengeräusch plötzlich übertönte, riss Dr. Robert Babicz aus dem Traum. Beschämt rieb er sich die Schläfe. »Was sagten Sie?«
    Das Polster des Beifahrersitzes knarzte, als sich Harlan Blunt, ein dicklicher Agent des FBI Field Office in Las Vegas, zur Rückbank umdrehte. »Ich fragte: Sind Sie sich wirklich sicher?«
    »Bin ich.«
    »Nicht zu glauben, dass dieser elende Bastard sich in unserem County versteckt hält.«
    »Er versteckt sich nicht. Er lebt hier. Mit seiner Familie.«
    »Macht die Sache nicht gerade besser.«
    Robert schaute aus dem verdunkelten Seitenfenster. Vor einer Dreiviertelstunde war er auf dem Flughafen von Las Vegas gelandet und Minuten später in Blunts Limousine gestiegen, deren Fahrer mit quietschenden Reifen losgerast war.
    Längst war das Glitzern des Zockerparadieses hinter dem Horizont verschwunden. Nichts als karge Wüstenlandschaft glitt an ihnen vorbei. Ab und zu waren im Scheinwerferlicht zwischen welken Sträuchern und dürren Kakteen die Umrisse einiger Wohnwagen auszumachen. Die meisten Trailer waren längst von ihren Besitzern
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