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Er

Er

Titel: Er
Autoren: Linus Reichlin
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    1
    W ER IST DAS?, dachte Angus. Wer war der Kerl, der im Krankenzimmer im anderen Bett lag und sich im Schlaf übers Gesicht wischte, als verscheuche er eine Fliege?
    »Wer ist der da?«, flüsterte Angus.
    Sean schaute kurz hin und sagte: »Blair, glaube ich.«
    »Welcher Blair? Macfarlane?«
    Sean nickte. Eine blonde Locke fiel ihm in die Stirn, er befestigte sie sorgfältig wieder hinter dem Ohr. Aber Blair Macfarlane war doch erst fünfzig. Der da sah aus wie achtzig, hatte keine Kontrolle mehr über seine Unterlippe, sie erinnerte Angus an einen toten Hering, der über die nassen Planken rutscht.
    »Das ist nicht Macfarlane«, flüsterte er.
    »Deswegen sind wir nicht hier«, sagte Sean, der aber nur nicht beim Lesen gestört werden wollte. Sean hatte immer ein Buch zwischen den Fingern. Er arbeitete in der Bibliothek von Stornoway und glaubte wohl, dass er das immer wieder jedem klarmachen musste, indem er sogar am Samstagabend Bücher las. Wenigstens trank er dazu Whiskey, und nicht ohne Leidenschaft.
    »Ich kenne sonst jeden, das weißt du«, flüsterte Angus. Es ließ ihm keine Ruhe. Es gab natürlich immer welche, deren Namen man nicht kannte, aber noch überhaupt nie gesehen? Einen so alten Kerl? In dreiundvierzig Jahren kein einziges Mal gesehen, auf Lewis, einer Insel, auf der jeder jeden kannte?
    »Das gibt’s einfach nicht«, sagte Angus. In diesem Moment schlug der alte Alasdair, vor dessen Bett er und Sean saßen, die Augen auf und sagte: »In drei Wochen bin ich tot.« Er sagte es mit einiger Zufriedenheit, Angus verstand sofort warum. Er verschob die Grübeleien über den Kerl, den er nicht kannte, auf später und betrat die Weiden des Todes, auf denen das Gras sehr saftig war, wie Angus schien. In drei Wochen tot zu sein, zu wissen, dass es sich dann von selbst erledigte … der Alte hat’s wirklich gut, dachte Angus und wich Alasdairs Blick aus, diesen Distelaugen, vor denen Angus sein Leben lang Angst gehabt hatte und eben selbst jetzt noch, wo man sie dir bald zudrückt, dachte er. Angus stellte sich vor, wie die Stacheln, die in diesem Blick steckten, sich durch die geschlossenen Lider bohren würden, und wie der Leichenbestatter sich den zerstochenen Finger lecken und den Toten hinterher nur noch mit Lederhandschuhen anfassen würde.
    »Sag nicht so was, Alasdair«, sagte Sean. Wenn Prostatakrebs blind gemacht hätte, hätte Sean das Buch bestimmt nicht zugeklappt, aber noch konnte Alasdair sehen, und man hörte das dumpfe Geräusch, wenn aus einem Buch die Luft entweicht. »Die kriegen dich schon wieder hin.«
    »Reden kannst du«, sagte Alasdair, »und eine Menge Unsinn kommt dabei raus.« Seine Stimme klang weibisch, fand Angus, wahrscheinlich lag’s an den Medikamenten. »Das ist eine böse Form, verstehst du? Das ist nicht der Krebs, den alle haben.«
    Klar, dachte Angus. Für den alten Alasdair musste es immer die Extrawurst sein, die größte Herde der Insel, die erste Krabbenzuchtanlage, und als Tochter das schönste Mädchen, das hier je aufs Meer geblickt hatte. Und dann war er auch noch tot, in drei Wochen, und dazu musste er nicht einmal mehr aufstehen. Er konnte einfach hier in diesem Bett liegen bleiben, wurde gefüttert, gewaschen, bestimmt auch noch gekämmt wie ein Zierschaf bei einem Schönheitswettbewerb. Und wenn’s so weit war, drehte er sich einfach auf die Seite und furzte seine Seele den Engeln ins Gefieder. Angus hatte mal in einer Radiosendung gehört, dass Sterbende furzen, und seitdem war der Gedanke an den Tod für ihn mit demselben befreienden Gefühl verbunden, das er jeweils hatte, wenn er nach einem schweren Abendessen die Gase abließ.
    »Ihr habt ja keinen blassen Schimmer«, sagte Alasdair. Draußen regnete es, ein paar Tropfen blieben an der Fensterscheibe kleben, Südwestwind, dachte Angus.
    »Das wird schon wieder«, sagte Sean. Mit seinen blonden Locken sah er ortsfremd aus, fand Angus, wie ein rübergeschwemmter Schwede. Er war aber ein MacAulay, alte, anständige Familie mit vielen Grabsteinen auf allen Friedhöfen der Insel. Grabsteine waren die Bäume von Lewis. Bäume hielten dem scharfen Wind nicht stand, Grabsteine schon, und wie bei den Bäumen kam es bei Grabsteinen auf die Wurzeln an. Man konnte auf Lewis sterben und blieb dennoch da, ein wohliger Schauder stieg Angus den Rücken hoch.
    »Du brauchst jetzt bloß ein paar Wochen Ruhe«, sagte Sean. »Und im Sommer fahren wir rüber nach Sula Sgeir, wie jedes Jahr, du wirst
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