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Haus der Jugend (German Edition)

Haus der Jugend (German Edition)

Titel: Haus der Jugend (German Edition)
Autoren: Florian Tietgen
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1.
     
    Wie viele Menschen hier auch flanieren, zwischen den Barkassen für die Hafenrundfahrten und den Lokalen auf dem Ponton, wie dicht das Gewühl unter den kreischenden Möwen auch ist, Darius erkenne ich sofort.
    Der Mann kommt mit großen Schritten auf mich zu, das Gesicht ist noch genauso braun gebrannt wie vor fünfzig Jahren. Die Augen strahlen nicht mehr so lebenshungrig, das Haar ist länger geworden. Aber es ist unverkennbar das Gesicht, das ich bestimmt über hundert Mal gezeichnet habe, das Porträt, das als Posterdruck in den Wohnzimmern oder Toiletten so mancher Junggesellenwohnung hängt und dessen Originale sich bei wohlhabenden Sammlern befinden, die mir durch den Kauf mein Leben finanziert haben. Es ist unverkennbar Darius.
    Lässt die Erinnerung mein Herz ins Stocken geraten oder die Realität?
    Zwischen den Restaurants befinden sich mobile Souvenirstände, an denen man Postkarten, Trinkbecher und Hamburg-T-Shirts erwerben kann. Vor den Barkassen stehen die Kapitäne und rufen zur nächsten Fahrt. Eine Stunde für neun Euro in klimatisierten Räumen oder an Deck. Wenn man etwas für sein Geld erleben möchte, muss man die kleinen, weniger luxuriösen Schiffe nehmen, die eingeklemmt zwischen Schwimmponton und Hafenmauer auf der Rückseite warten.
    Mit ihnen kann man die Fleete entlang unter den Brücken der Speicherstadt hindurchfahren, die Schleusen passieren. Auf ihnen erfährt man mehr über die Eichenpfähle, die vor über hundert Jahren in den Fluss gerammt wurden, um die Speicherhäuser zu erbauen. Wegen des fehlenden Sauerstoffs im Wasser konnten sie sich bis heute halten, ohne zu modern.
    Der Mann erkennt mich nicht, in fünfzig Jahren bin ich alt, faltig und grau geworden, die Jahre haben ihre Kerben geschlagen und ich Fett angesetzt. Er läuft nur in meine Richtung, ziellos suchend. Ich folge seinem Weg mit meinem Blick, versuche einen Moment zu erhaschen, in dem wir uns treffen.
    Seit ich nicht mehr male, verbringe ich oft meine Zeit am Hafen. In dem Geruch von Wasser und Diesel, in den Geräuschen von Schiffssirenen und sich am Ponton brechenden Wellen liegt für mich die Ahnung der Welt, von Freiheit und Leben, Männlichkeit und Mühsal. In der frischen Brise fällt mir das Atmen leichter, fühle ich mich beschwingt, habe ich Anteil am Treiben um mich herum.
    Ich sitze draußen vor einem Fischrestaurant. Es ist so kühl, dass ich die Jacke fest geschlossen halten muss und mich von innen mit Grog wärme, doch mich drinnen hinter den Glasscheiben vom Leben auszuschließen kommt nicht infrage. Es ist Freitag. Auf dem Ponton wimmelt es trotz der Kälte von Wochenendtouristen, die den Besuch im »König der Löwen« mit einem Besuch von Landungsbrücken und Reeperbahn, von Michel und Dungeon und mit einer Hafenrundfahrt verbinden. Die Touristen haben ihre Hände tief in den Manteltaschen vergraben, wenn sie nicht gerade die Geldbörse in ihnen halten, um die Rundfahrt oder ein Souvenir zu bezahlen.
    Darius trägt keinen Mantel, nicht einmal einen warmen Troyer, nur Jeans und ein graues T-Shirt mit blauem Aufdruck der Detroit-Lions.
    Was mich an meinem Glas schnuppern lässt, um zu überprüfen, ob vielleicht zu viel Rum im Grog ist, was mein Herz ins Stocken bringt und meinen Verstand in Frage stellt, ist die Zweifellosigkeit, mit der ich ihn erkenne.
    Wie die Eichenpfähle, auf denen die Speicherstadt errichtet ist, trägt auch er keine Spuren der Zeit. Er ist ein Mann von zwanzig Jahren, wie damals, als er von einem auf den anderen Tag verschwunden war. Wie damals, als ich auf der Suche nach ihm die Isar entlanggelaufen bin, am Gärtnerplatz gelauert habe, ob ich irgendwo sein Lachen hören oder sein Gesicht sehen könnte. Und als ich jeden Tag die Zeitungen las, nur um über eine Nachricht Gewissheit zu bekommen, es wäre ihm etwas passiert, man hätte ihn verhaftet, ins Gefängnis gesteckt oder ermordet.
     

2.
     
    Damals war Darius ein ungewöhnlicher Name. Die Männer hießen Hermann, Friedrich, Detlef oder Wolfgang, die Frauen Elke, Elisabeth oder Ingeborg.
    Meine Eltern hatten mir den Namen Siegfried gegeben, voller Ehrfurcht vor dem Ring der Nibelungen, der Musik Wagners und voller Enthusiasmus auf dem Weg zum Tausendjährigen Reich, auch wenn damals der Frieden nicht passte und die Geschichte zum Glück den Sieg verhindert hat.
    Als ich Darius kennenlernte, hatten sich die Tausend Jahre schon erledigt. Es war die Zeit des schwarz-weißen Aufbruchs.
    Die Fernsehbilder waren
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