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Haus der Jugend (German Edition)

Haus der Jugend (German Edition)

Titel: Haus der Jugend (German Edition)
Autoren: Florian Tietgen
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Suche, Leidenschaft, Verzweiflung, Wut.
    Ohne mich zu beachten, geht er zügig an meinem Tisch vorbei, so nah, dass ich ihn an seinem Arm festhalten könnte. Ich möchte meine Hand ausstrecken, ihn berühren, die leicht schmirgelnde Haut spüren, die ich bei niemandem je wieder erlebt habe. Doch wie gelähmt lasse ich sie auf dem Tisch liegen. Ich möchte seinen Namen rufen, bringe nichts weiter hervor als trockenes Räuspern, als müsste ich husten. Darius huscht vorbei, schon kann ich nur noch seinen Rücken sehen, das leichte Pendeln seines Hinterns bei jedem Schritt. Noch immer ist sein linker Fuß leicht nach außen gebogen, allen Einlagen zum Trotz, die er in den fünfzig Jahren hätte tragen können.
    »Darius!« Endlich funktioniert meine Stimme wieder. Kurz warte ich, ob er sich umdrehen wird, zwei Sekunden vielleicht, dann rufe ich erneut: »Darius!« Sicher ist es aussichtslos. Es sind viel zu viele Menschen auf dem Schwimmponton, es ist zu laut, zu hektisch, zu voll. Eine leichte Irritation scheint ihn zu erfassen, fast unmerklich verzögert er seinen Schritt, lauscht in die Geräuschkulisse.
    »Darius!« Ich versuche, lauter zu rufen, weiß nicht, ob mir das gelingt. Es ist mir peinlich, denn trotz des Lärms ist es um mich herum auf einmal still.
    Darius zögert, dreht sich langsam um, ich rufe erneut, schaffe es, die gerade noch gelähmte Hand zu bewegen, in die Luft zu halten und zu winken. Unsicher kommt der junge Mann auf mich zu, ich zweifle plötzlich, ob es wirklich Darius ist. Aber wenn er es nicht ist, muss es ein eineiiger Zwilling von ihm sein. Sein Gesicht sieht fragend aus, die Stirn ist leicht in Falten gezogen, doch er bleibt vor mir stehen.
    »Meinen Sie mich?«, fragt er.
    »Darius?«, frage ich.
    Er nickt, betrachtet mein Gesicht auf der Suche nach einer Erinnerung, forscht in den Spuren der Vergangenheit, in den Furchen des Lebens, ob er ein Gesicht herausschälen kann, das er kennt.
    »Siegfried«, sage ich. »Erinnerst du dich?«
    Wie mechanisch setzt er sich zu mir, fast, als merkte er nicht einmal, dass er den Stuhl vom Tisch zieht. Er erscheint mir etwas schlanker als vor fünfzig Jahren, während ich nicht mehr so dürr bin. Der Stoffwechsel des Alters hat mir ein paar Pfunde geschenkt, fast zu viel. Ein gefälschter Raddampfer legt am Kai an, die Wellen klatschen hörbar an den Ponton, ein Kind plärrt - vielleicht wegen der Kälte, vielleicht, weil es Hunger hat. Darius schüttelt weder den Kopf noch nickt er. Er starrt mich an, winkt der Bedienung und bestellt ein Alsterwasser.
    »München?«
    »Ja.«
    »Mann ist das lange her.«
    ›Das sieht man dir nicht an‹, möchte ich sagen, aber aus irgendeinem Grund habe ich Angst, dann springt er sofort auf und flieht, also nicke ich nur.
    »Du bist es«, sagt Darius und es klingt genauso staunend, wie am Morgen des zwölften Januar 1955. »Du bist voller geworden, das steht dir gut. Wenn du mich nicht angesprochen hättest, hätte ich dich nicht erkannt, tut mir leid. Aber jetzt, da ich dich anschaue, bist du es. Du hast noch immer das kleine Muttermal links in der Nasenbeuge.«
    »Ich bin älter geworden, das muss dir nicht leidtun.«
    Mein Grog ist längst kalt geworden. Ich nehme einen Schluck, spüre Darius’ Blick auf meinem Gesicht, bis die Kellnerin ihm das Alsterwasser auf den Tisch stellt, er sie anlächelt und sich bedankt.
    Die Zeit hat sich wie ein dämpfender Teppich über die Gefühle gelegt, so lebendig sie auch sind, so irreal kommen sie mir vor. Wie Bilder aus einem Schwarz-Weiß-Film. Der Schmerz flattert in unruhigen Bildern vor mir, das Glück lacht grau und in rissigen Streifen, der Projektor rattert im Kopf und ab und zu zeigen weiße geometrische Zeichen an, es wird Zeit die Spule zu wechseln. Und der Schauspieler sitzt mir gegenüber, holt die Fantasien und Gefühle in die Realität und schiebt sie gleichzeitig weit in die Imagination. Denn er hat sich nicht verändert.
    »Keine Vorwürfe?«, fragt Darius.
    Ich schüttle den Kopf. »Hätte ich dich früher getroffen, hätte ich dir wohl einige gemacht.«
    »Keine Fragen?«
    Jede Menge an Fragen, viel zu viele, um sie zu stellen. Und vielleicht täte ich es, würde ich träumen, säße er mir nicht in der Realität gegenüber und verzerrte diese.
    »Nein. Vielleicht später.«
    »Dich hat die Kunst nach Hamburg verschlagen, oder …?« Darius nimmt einen Schluck Alsterwasser, wischt sich den Schaum vom Mund und schaut mich wieder an. Ich sehe ihn an,
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