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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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das: »Ich bin mir sicher, dass deine Eltern mir nie etwas davon erzählt haben; ja, ich habe immer gedacht, sie wüssten gar nichts davon.«
    Ich wende mich an ihre jüngere Schwester. Auch sie erinnert sich an die Hindernisbahn, die verbundenen Augen, die Häufigkeit dieses Spiels. »Du wurdest dann in rasendem Tempo durch die Hindernisse geschoben, und das Rennen endete damit, dass du gegen die Gartenmauer geknallt wurdest. Es hieß immer, ihr hättet beide einen Mordsspaß daran gehabt, und dabei schwang auch mit, dass Mutter dieses Treiben ganz bestimmt missbilligt hätte; ich glaube, weniger deshalb, weil du dabei Schaden nehmen konntest, sondern weil dabei Gartengeräte zweckentfremdet und die zum Trocknen aufgehängte Wäsche verschmutzt wurde. Warum man uns diese Geschichte erzählt hat (oder warum ich mich an sie erinnere), weiß ich nicht. Ich glaube, es war die einzige Geschichte über dich und überhaupt über die Familie außer der, dass deine Großmutter einmal auf einem Schiff in eine Reihe von Joghurtbechern gekotzt hat. Ich glaube, sie sollte uns zeigen, dass Kinder machen sollen, wozu sie Lust haben, vor allem wenn es albern ist und den Erwachsenen nicht gefällt … Wir bekamen die Geschichte scherzhaft erzählt, und wir sollten ganz sicher lachen und uns über die Tollkühnheit des Unternehmens freuen. Ich glaube, wir haben nie daran gezweifelt, dass das Ganze wahr ist.«
    Verstehen Sie (wieder einmal), warum ich (unter anderem) Schriftsteller bin? Drei einander widersprechende Darstellungen desselben Ereignisses, eine von einem Beteiligten, zwei, die sich auf Erinnerungen an spätere, dreißig Jahre zurückliegende Erzählungen stützen (mit Einzelheiten, die der ursprüngliche Erzähler selbst womöglich seither vergessen hat); die plötzliche Einfügung neuer Aspekte – »Zweckentfremdung von Gartengeräten«, »Verschmutzung der Wäsche«; die Hervorhebung, in den Versionen meiner Nichten, eines rituellen Höhepunkts des Spiels – dass ich gegen eine Mauer geschubst wurde –, den mein Bruder leugnet; die fehlende Erinnerung an die gesamte Episode bei dem zweiten Beteiligten trotz seiner Sklavendienste als Holzklotz-Anroller und Ziegelstein-Sammler; das Fehlen einer Revanche, bei der ich das Dreirad schieben durfte, in den Versionen meiner Nichten; und vor allem der moralische Unterschied zwischen der angeblichen Absicht meines Bruders beim Erzählen der Geschichte (rein zum Vergnügen) und den jeweils voneinander abweichenden Empfindungen seiner Töchter dabei. Fast hätten die Antworten meiner Informanten eigens zu dem Zweck verfasst sein können, Zweifel an der Verlässlichkeit mündlicher Geschichtsüberlieferung zu wecken. Und ich sitze nun wieder mit einer neuen möglichen Definition meiner Tätigkeit da: Ein Romanschriftsteller ist jemand, der sich an nichts erinnert, aber verschiedene Versionen dessen, woran er sich nicht erinnert, aufzeichnet und manipuliert.
    Im vorliegenden Fall müsste der Romanschriftsteller Folgendes nachliefern: wer das Spiel erfand; warum an dem Dreirad die Kette fehlte; wie der Schieber dem blinden Fahrer Anweisungen zum Steuern gab; ob Mutter wirklich Bescheid wusste; welche Gartengeräte verwendet wurden; wie die Wäsche verschmutzt wurde; welches sadistische und/oder präsexuelle Vergnügen dabei womöglich eine Rolle spielte; und warum es die wichtigste und beinah einzige Geschichte ist, die ein Philosoph aus seiner Kindheit erzählt hat. Und falls es ein mehrere Generationen umspannender Roman sein sollte, auch ob die beiden Schwestern, die diese Geschichte zuerst hörten, sie später ihren eigenen Töchtern weitererzählten (und zu welchem vergnüglichen oder moralischen Zweck) – ob die Geschichte ausstirbt oder in den Mündern und Köpfen einer nachfolgenden Generation wiederum verändert wird.
    Für junge Leute – und vor allem für junge Schriftsteller – sind Erinnerung und Fantasie klar voneinander geschieden und gehören verschiedenen Kategorien an. In einem typischen ersten Roman gibt es meist Momente unmittelbarer Erinnerung (typischerweise eine unvergessliche sexuelle Peinlichkeit), Momente, in denen eine Erinnerung unter Einsatz der Fantasie umgestaltet wurde (vielleicht das Kapitel, in dem der Protagonist eine Lektion über das Leben lernt, während der künftige Romanschriftsteller im wirklichen Leben überhaupt nichts lernte), und Momente, in denen die Fantasie zum Erstaunen des Schriftstellers in einen jähen Aufwind gerät und
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