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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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einfach ein pragmatischer Schritt war, habe ich vergessen. Ich weiß nur noch, dass er im Briefmarkenclub meiner Schule zu einigen bisweilen rätselhaften Gesprächen unter den eben erst den kurzen Hosen entwachsenen Philatelisten führte. »Na, Barnesy, was sammelst du denn?« – »Den Rest der Welt.«
    Mein Großvater war ein Brylcreem-Mann, und der Schonbezug auf seinem Parker-Knoll-Sessel – mit hoher Rückenlehne und Seitenteilen, die zu einem Nickerchen einluden – diente nicht nur dekorativen Zwecken. Sein Haar war früher weiß geworden als das von Grandma; er hatte einen militärisch gestutzten Schnurrbart, eine Pfeife mit einem Stiel aus Metall und einen Tabaksbeutel, der seine Strickjackentasche ausbeulte. Außerdem trug er ein klobiges Hörgerät, ein weiterer Aspekt der Erwachsenenwelt – oder besser der Welt jenseits des Erwachsenenalters –, über den mein Bruder und ich uns gern lustig machten. »Wie bitte?«, schrien wir uns spöttisch an, die hohle Hand ans Ohr gelegt. Beide warteten wir gespannt auf den köstlichen Moment, da der Magen unserer Großmutter so laut knurrte, dass Grandpa aus seiner Taubheit aufschreckte und fragte: »Telefon, Ma?« Nach einem verlegenen Grunzen wandten sich dann beide wieder ihrer jeweiligen Zeitung zu. Grandpa in seinem männlichen Sessel, wo von Zeit zu Zeit sein Hörgerät piepte und seine Pfeife blubberte, wenn er daran zog, las kopfschüttelnd den Daily Express, der ihm eine Welt schilderte, in der Wahrheit und Gerechtigkeit beständig von der Roten Gefahr bedroht wurden. Grandmas Sessel – im roten Winkel – war weicher, femininer; dort studierte sie mit leiser Empörung ihren Daily Worker, der ihr eine Welt schilderte, in der eine überarbeitete Version von Wahrheit und Gerechtigkeit beständig von Kapitalismus und Imperialismus bedroht wurde.
    Zu der Zeit beschränkte sich Grandpas Religionsausübung schon darauf, dass er sich im Fernsehen Songs of Praise anschaute. Er machte allerlei Holzarbeiten und werkelte im Garten; er baute seinen Tabak selbst an und trocknete ihn auf dem Boden über der Garage, wo er auch Dahlienknollen und alte, mit einem haarigen Bindfaden verschnürte Ausgaben des Daily Express aufbewahrte. Mein Bruder war sein Lieblingsenkel; er brachte ihm bei, wie man einen Meißel schärft, und vermachte ihm seinen Kas ten mit Zimmermannswerkzeugen. Ich kann mich nicht erinnern, dass er mir etwas beigebracht (oder vermacht) hätte, aber ich durfte einmal zuschauen, wie er im Geräteschuppen ein Huhn schlachtete. Er klemmte sich das Tier unter den Arm, streichelte es, bis es ruhig war, und legte es mit dem Hals in eine an den Türpfosten geschraubte Wringmaschine aus grünem Eisen. Als er den Hebel herunterdrückte, packte er den Vogel bei dessen letzten Zuckungen noch fester.
    Mein Bruder durfte nicht nur zuschauen, sondern auch aktiv mitmachen. Grandpa ließ ihn mehrmals auf den Hebel drücken, während er selbst das Tier festhielt. Doch unsere Erinnerungen an das Schlachten im Schuppen gehen bis zur Unvereinbarkeit auseinander. Bei mir drehte die Maschine dem Huhn lediglich den Hals um; bei meinem Bruder war es eine Guillotine im Kleinformat. »Ich sehe deutlich ein Körbchen unter der Klinge vor mir. Ich sehe (nicht ganz so deutlich) vor mir, wie der Kopf herunterfällt, wie etwas (nicht viel) Blut fließt, Grandpa den enthaupteten Vogel auf den Boden stellt und dieser noch eine Weile herumläuft …« Ist meine Erinnerung gereinigt oder seine von Filmen über die Französische Revolution infiziert? So oder so hat Grandpa meinen Bruder besser mit dem Tod – und seinen schmutzigen Begleitumständen – bekannt gemacht als mich. »Weißt du noch, wie Grandpa vor Weihnachten die Gänse schlachtete?« (Nein, weiß ich nicht.) »Er scheuchte die ausgewählte Gans immer mit einer Brechstange im Stall herum. Wenn er das Tier schließlich hatte, warf er es obendrein noch zu Boden, setzte ihm die Brechstange an den Hals und zerrte an seinem Kopf.«
    Mein Bruder erinnert sich auch an ein Ritual – bei dem ich nie zugegen war –, das er die Lesung der Tagebücher nannte. Grandma und Grandpa führten getrennte Tagebücher und unterhielten sich abends manchmal damit, dass sie sich gegenseitig vorlasen, was sie vor Jahren in der und der Woche aufgeschrieben hatten. Die Eintragungen zeichneten sich offenbar durch erhebliche Banalität, aber auch Widersprüchlichkeit aus. Grandpa: »Freitag. Im Garten gearbeitet. Kartoffeln gepflanzt.«
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