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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Vor ihrer Demenz hatte ich mich oft dabei ertappt, dass ich während ihrer solipsistischen Monologe einfach abschaltete; dann wurde meine Mutter plötzlich auf schmerzliche Weise interessant. Ich fragte mich ständig, wo das alles herkam und wie das Gehirn diese falsche Realität zustande brachte. Auch konnte ich es ihr jetzt nicht mehr übel nehmen, dass sie nur über sich selbst reden wollte.
    Man sagte mir, im Moment ihres Todes seien zwei Schwestern bei ihr gewesen, die sie eben auf die andere Seite drehen wollten, und da sei sie einfach »verschieden«. Ich stelle mir gern vor – weil es typisch für sie gewesen wäre, und ein Mensch sollte so sterben, wie er gelebt hat –, dass ihr letzter Gedanke ihr selbst galt und etwas in der Art war wie: »Na los, bring es hinter dich.« Aber das ist eine sentimentale Vorstellung – was sie sich gewünscht hätte (besser gesagt, was ich mir für sie gewünscht hätte) –, und wenn sie überhaupt etwas dachte, bildete sie sich vielleicht ein, sie sei wieder ein fieberndes Kind und werde von zwei längst verstorbenen Verwandten auf die andere Seite gedreht.
    Im Bestattungsinstitut berührte ich nun mehrmals ihre Wange und gab ihr dann einen Kuss auf den Haaransatz. War sie so kalt, weil sie in einer Kühlkammer gelegen hatte, oder sind Tote von Natur aus so kalt? Und nein, sie sah nicht entsetzlich aus. Sie war nicht überschminkt, und es hätte sie gefreut, dass ihre Haare glaubwürdig zurechtgemacht waren (»Natürlich färbe ich sie nicht«, hatte sie einmal vor der Frau meines Bruders geprahlt. »Das ist alles Natur.«). Der Wunsch, sie tot zu sehen, entsprang, das muss ich zugeben, eher schriftstellerischer Neugier als kindlichem Gefühl; doch nach all meiner verzweifelten Wut über sie musste auch anständig Abschied genommen werden. »Gut gemacht, Ma«, sagte ich leise zu ihr. Sie hatte das Sterben in der Tat »besser« bewältigt als mein Vater. Er hatte mehrere Schlaganfälle erlitten und dann über Jahre hinweg abgebaut; sie hatte den Weg vom ersten Anfall bis zum Tod alles in allem zügiger und schneller zurückgelegt. Als ich im Pflegeheim (heutzutage heißt das »Seniorenresidenz« – ein Ausdruck, bei dem ich mich immer frage, wie Pflegefälle wohl »residieren« können) die Tasche mit ihren Kleidern abholte, fand ich sie unerwartet schwer. Als Erstes entdeckte ich eine volle Flasche Harvey’s Bristol Cream darin und dann, in einer quadratischen Pappschachtel, eine unangetastete Geburtstagstorte, fertig gekauft von Freunden aus dem Dorf, die sie an ihrem letzten, dem zweiundachtzigsten Geburtstag besucht hatten.
    Mein Vater war im selben Alter gestorben. Ich hatte immer geglaubt, sein Tod würde mich schwerer treffen, weil ich ihn mehr geliebt hatte, während ich meine Mutter bestenfalls zähneknirschend gernhaben konnte. Doch dann war es genau umgekehrt: Der Tod, den ich mir nicht so schwerwiegend vorgestellt hatte, erwies sich als komplizierter und bedrohlicher. Sein Tod war einfach nur sein Tod; ihr Tod war beider Tod. Und die anschließende Haushaltsauflösung wurde zu einer Exhumierung dessen, was wir als Familie waren – nicht, dass wir nach meinen ersten dreizehn oder vierzehn Lebensjahren noch wirklich eine Familie gewesen wären. Jetzt durchsuchte ich zum ersten Mal die Handtasche meiner Mutter. Von den üblichen Dingen abgesehen, war auch ein Ausschnitt aus dem Guardian darin mit einer Liste der fünfundzwanzig größten Cricket-Schlagmänner der Nachkriegszeit (dabei las sie den Guard ian gar nicht) sowie ein Foto von Max, dem Hund – einem Golden Retriever –, den wir in unserer Kinderzeit hatten. Auf der Rückseite stand in einer mir unbekannten Handschrift: »Maxim: le chien«; das Bild musste Anfang der 1950 er-Jahre von P., einem der französischen Assistenzlehrer meines Vaters, aufgenommen oder zumindest beschriftet worden sein.
    P. kam aus Korsika, ein unbeschwerter Bursche mit der – wie meine Eltern fanden – typisch gallischen Eigenschaft, sein Monatsgehalt gleich nach Erhalt zu verpulvern. Er war für ein paar Tage zu uns gezogen, bis er eine eigene Unterkunft gefunden hatte, und blieb am Ende das ganze Jahr. Mein Bruder ging eines Morgens ins Bad und entdeckte dort diesen fremden Mann vor dem Rasierspiegel. »Wenn du weggehst«, erklärte ihm das schaumbedeckte Gesicht, »erzähle ich dir eine Geschichte von Mister Beezy-Weezy.« Mein Bruder ging weg, und wie sich herausstellte, kannte P. eine ganze Reihe von
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