Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
Vom Netzwerk:
Abenteuern, die Mister Beezy-Weezy widerfahren waren und an die ich mich alle nicht mehr erinnern kann. P. hatte auch eine künstlerische Ader: Er bastelte Bahnhöfe aus Cornflakespackungen und schenkte meinen Eltern einmal – vielleicht anstelle der Miete – zwei kleine selbstgemalte Landschaften. Sie hingen meine gesamte Kindheit über an der Wand und erschienen mir unglaublich gelungen; allerdings wäre mir damals jede halbwegs gegenständliche Darstellung unglaublich gelungen erschienen.
    Und Max war uns kurz nach dieser Aufnahme entweder weggelaufen oder – da wir uns nicht vorstellen konnten, dass er uns verlassen wollte – gestohlen worden; wo immer er abgeblieben war, er musste nun schon über vierzig Jahre tot sein. Mein Vater hätte zwar gern einen neuen Hund gehabt, doch meine Mutter wollte danach nie wieder einen.

    Bei diesem familiären Hintergrund einer wässrigen Gläubigkeit in Kombination mit energischer Gottlosigkeit hätte ich im Zuge pubertärer Auflehnung wohl fromm werden können. Jedoch wurde weder der Agnostizismus meines Vaters noch der Atheismus meiner Mutter jemals klar formuliert, geschweige denn als vorbildlich hingestellt, sodass beides vielleicht keine Revolte wert war. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich vermutlich auch Jude werden können. Auf meiner Schule waren unter 900 Jungen etwa 150 Juden. Im Großen und Ganzen hatten sie den anderen sowohl im gesellschaftlichen Umgang als auch in ihrer Kleidung etwas voraus; sie trugen bessere Schuhe – ein Altersgenosse besaß sogar ein Paar Stiefeletten mit Elastikeinsatz – und kannten sich mit Mädchen aus. Außer dem hatten sie zusätzliche Feiertage, ein offenkundiger Vorteil. Und es hätte meinen Eltern einen schönen Schock versetzt, die wie viele ihres Alters und ihrer Gesellschaftsschicht unterschwellig antisemitisch eingestellt waren. (Wenn nach einem Fernsehfilm ein Name wie Aaronson im Abspann auftauchte, bemerkte einer von beiden gern sarkastisch: »Wieder so ein Waliser.«) Nicht, dass sie sich meinen jüdischen Freunden gegenüber irgendwie anders verhalten hätten, von denen einer, anscheinend völlig zu Recht, Alex Brilliant hieß. Alex war der Sohn eines Tabakhändlers, las mit sechzehn Wittgenstein und schrieb von Vieldeutigkeit durchpulste Gedichte – die Ambiguitäten waren zweifach, dreifach, vierfach angelegt wie ein Herz-Bypass. In Englisch war er besser als ich und ging mit einem Stipendium nach Cambridge; danach verlor ich ihn aus den Augen. Im Laufe der Jahre malte ich mir hin und wieder seinen mutmaßlichen Erfolg in einem geisteswissenschaftlichen Beruf aus. Ich war schon über fünfzig, als ich erfuhr, dass diese biografischen Mutmaßungen müßige Gedankenspiele waren. Alex hatte sich mit Ende zwanzig umgebracht – mit Tabletten, wegen einer Frau –, und ich hatte inzwischen doppelt so lange gelebt.
    Ich hatte also keinen Glauben, den ich verlieren konnte, nur einen Widerstand, der sich heroischer anfühlte, als er tatsächlich war, und sich gegen das mit einer englischen Erziehung einhergehende milde Regime der Gottesverweise richtete: Bibelunterricht, morgendliche Gebete und Choräle, der alljährliche Erntedank-Gottesdienst in der St. Paul’s Cathedral. Und damit hatte es sich auch schon, wenn man von der Rolle des Zweiten Schäfers in einem Krippenspiel an meiner Grundschule absieht. Ich wurde nie getauft, nie in die Sonntagsschule geschickt. Ich habe mein Leben lang nie einen normalen Gottesdienst besucht. Ich gehe zu Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen. Ich bin ständig in Kirchen, aber aus architektonischen Gründen und im weiteren Sinne, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was einst englische Wesensart ausmachte.
    Mein Bruder war liturgisch ein klein wenig erfahrener. Als Wölfling nahm er ein paar Mal am regulären Gottesdienst teil. »Ich meine mich an ein Gefühl verwunderten Staunens zu erinnern, wie ein kindlicher Anthropologe unter Kannibalen.« Auf meine Frage, wie er seinen Glauben verloren habe, antwortet er: »Ich habe ihn nie verloren, da ich nie einen zu verlieren hatte. Aber dass das Ganze ein Haufen Blödsinn ist, wurde mir am 7 . Februar 1952 um 9 Uhr klar. Mr Ebbets, der Rektor der Derwentwater Primary School, gab bekannt, der König sei gestorben, er sei in die ewige Seligkeit eingegangen und nun bei Gott im Himmel, und deshalb sollten wir alle einen Monat lang einen schwarzen Trauerflor tragen. Ich dachte, da stimmt doch was nicht, und damit hatte ich verdammt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher