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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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häufig verblüfft über seine Gedankengänge; dabei ist er ein sehr aufrichtiger Mensch. Als ich ihn nach der Trauerfeier nach London zurückfuhr, hatten wir eine – für mich – noch eigenartigere Auseinandersetzung über meine Nichte und deren Freund. Die beiden waren schon lange zusammen, doch in einer schwierigen Phase hatte C. ein Verhältnis mit einem anderen Mann angefangen. Diesen Eindringling hatten mein Bruder und seine Frau von Anfang an nicht gemocht, und meine Schwägerin hatte ihn offenbar gleich in den ersten zehn Minuten »zur Schnecke gemacht«. Ich fragte nicht, wie sie das angestellt hatte. Stattdessen fragte ich: »Aber R. findet deinen Beifall?«
    »Es ist nicht von Belang«, entgegnete mein Bruder, »ob R. meinen Beifall findet oder nicht.«
    »Doch, es ist sehr wohl von Belang. Vielleicht will C. ja, dass er deinen Beifall findet.«
    »Im Gegenteil, vielleicht will sie, dass er nicht meinen Beifall findet.«
    »Aber so oder so ist es für sie von Belang, ob er deinen Beifall findet oder nicht.«
    Darüber dachte er eine Weile nach. »Du hast recht«, sagte er dann.
    Vielleicht sieht man an diesen Gesprächen, dass er der ältere Bruder ist.

    Meine Mutter hatte sich nicht darüber geäußert, welche Musik bei ihrer Beerdigung gespielt werden sollte. Ich wählte den ersten Satz von Mozarts Klaviersonate in Es-Dur, KV 282  – eins dieser langen, erhabenen Stücke, bei denen die Musik fortwährend hin und her wogt und selbst an den munteren Stellen feierlich wirkt. Das Stück schien sich statt der auf dem Cover angegebenen sieben Minuten etwa eine Viertelstunde hinzuziehen, und mitunter fragte ich mich, ob das nun wieder eine mozartische Wiederholung war oder ob der CD  – Player des Krematoriums einen Sprung zurück gemacht hatte. Im Vorjahr war ich Gast bei Desert Island Discs gewesen und hatte mir dort das Requiem von Mozart gewünscht. Hinterher rief meine Mutter an und sprach mich darauf an, dass ich mich in der Sendung als Agnostiker bezeichnet hatte. Sie meinte, das habe Dad auch immer getan – sie hingegen sei Atheistin. Bei ihr klang das so, als sei Agnostizismus eine windelweiche liberale Haltung, während der Atheismus sich ehrlich zur knall harten Realität des freien Marktes bekannte. »Was soll eigentlich dieses ganze Tamtam um den Tod?«, fuhr sie fort. Ich erklärte, mir widerstrebe eben der Gedanke daran. »Du bist genau wie dein Vater«, entgegnete sie. »Vielleicht liegt es an deinem Alter. Wenn du mal so alt bist wie ich, macht dir das nicht mehr viel aus. Ich habe mein Leben sowieso hinter mir. Und denk nur ans Mittelalter – da war die Lebenserwartung wirklich gering. Heute werden wir siebzig, achtzig, neunzig Jahre alt … Die Leute glauben nur an die Religion, weil sie Angst vor dem Tod haben.« Das war typisch für meine Mutter: hellsichtig, schulmeisterlich und keine andere Meinung gelten lassend. Mutters dominierende Stellung in der Familie und ihre Gewissheiten über die ganze Welt ließen mir als Kind alles schön klar erscheinen, als Jugendlicher fand ich ihre Ansichten repressiv und als Erwachsener nervtötend monoton.
    Nach der Einäscherung holte ich mir meine Mozart- CD von dem »Organisten« zurück, der, wie ich unwillkürlich dachte, heutzutage wohl sein volles Honorar dafür bekommt, dass er eine CD einschiebt, eine einzige Nummer abspielt und die Scheibe wieder herausholt. Mein Vater war fünf Jahre zuvor in einem anderen Krematorium verbrannt worden, und dort hatte sich der Organist sein Geld mit ehrlicher Arbeit und einem Stück von Bach verdient. War es das, »was er sich gewünscht hätte«? Ich glaube, er hätte nichts dagegen gehabt; er war ein sanfter, liberal gesinnter Mensch, der sich nicht sonderlich für Musik interessierte. Auf dem Gebiet fügte er sich, wie auf den meisten anderen, seiner Frau – nicht ohne die eine oder andere leise ironische Nebenbemerkung. Wie er sich kleidete, in welchem Haus sie wohnten, welches Auto sie fuhren – das bestimmte sie. In meiner gnadenlosen Jugendzeit hielt ich ihn für einen Schwächling. Später fand ich ihn unterwür fig. Noch später war er für mich jemand, der sich seine eigenen Gedanken machte, aber keine Lust hatte, sich dafür zu streiten.
    Als ich das erste Mal mit meiner Familie in die Kirche ging – anlässlich der Hochzeit einer Kusine –, beobachtete ich verwundert, wie Dad auf der Kirchenbank niederkniete und dann eine Hand über Stirn und Augen legte. Wo hat er das denn her,
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