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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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recht. Mir fielen keine Schuppen von den Augen, ich empfand keinen Verlust, keine Leere in meinem Leben usw. usf. Ich hoffe«, sagt er weiter, »dass diese Geschichte wahr ist. Auf jeden Fall ist es eine sehr deutliche und anhaltende Erinnerung; aber du weißt ja, wie das mit Erinnerungen so ist.«
    Als George VI. starb, war mein Bruder gerade mal neun Jahre alt (ich war sechs und auf derselben Schule, habe aber keinerlei Erinnerung an die Rede von Mr Ebbets und schwarze Trauerflore). Ich selbst war schon älter, als ich den letzten Rest – oder die Möglichkeit – einer Religion endgültig aufgab. Wenn ich als Jugendlicher im häuslichen Bad über einem Buch oder einer Zeitschrift hockte, redete ich mir immer ein, es könne gar keinen Gott geben, denn die Vorstellung, er würde mir beim Onanieren zuschauen, war absurd; noch absurder war die Vorstellung, alle meine toten Ahnen seien in einer Reihe angetreten und schauten ebenfalls zu. Ich hatte auch andere, rationalere Argumente, doch mit diesem durchschlagend überzeugenden Gefühl war Gott erledigt – was natürlich auch in meinem eigenen Interesse lag. Der Gedanke, dass Grandma und Grandpa beobachteten, was ich da trieb, hätte mich ernstlich aus dem Takt gebracht.
    Doch während ich dies schreibe, frage ich mich, warum ich nicht auch andere Möglichkeiten in Betracht zog. Warum nahm ich an, dass Gott, falls er denn zusah, zwangsläufig missbilligen sollte, wie ich meinen Samen vergoss? Warum kam ich nicht auf die Idee, der Himmel könnte angesichts meiner eifrigen und unermüdlichen Selbstbefleckung vielleicht deshalb nicht einstürzen, weil das im Himmel nicht als Sünde galt? Ich hatte auch nicht genügend Fantasie, um mir auszumalen, meine toten Ahnen könnten mein Treiben ebenfalls belächeln: Nur zu, mein Sohn, genieß es, solange du kannst; bist du erst mal ein körperloser Geist, ist es damit so ziemlich vorbei, also machs noch mal für uns mit. Grandpa hätte vielleicht seine himmlische Pfeife aus dem Mund genommen und verschwörerisch geflüstert: »Ich kannte einmal ein sehr nettes Mädel namens Mabel.«

    In der Grundschule wurden unsere Stimmen geprüft. Wir traten einzeln vor die Klasse und versuchten, zur Begleitung des Lehrers eine einfache Melodie zu singen. Dann wurden wir in zwei Gruppen eingeteilt: hohe Stimmlagen und niedere Stimmlagen (ein musikalischer Rest der Welt). Diese Bezeichnungen waren freundliche Euphemismen, schließlich würde es noch Jahre dauern, bis wir in den Stimmbruch kamen; ich weiß noch, wie nachsichtig meine Eltern meinen Bericht davon aufnahmen, in welche Gruppe ich gekommen war, als wäre das eine Auszeichnung. Mein Bruder war ebenfalls eine niedere Stimmlage, allerdings stand ihm eine noch größere Demütigung bevor. In unserer nächsten Schule wurden wir wiederum geprüft und – wie mein Bruder mir in Erinnerung ruft – in die Gruppen A, B und C eingeteilt, und zwar von »einem widerlichen Mann namens Walsh oder Welsh«. Der Grund für den auch nach mehr als einem halben Jahrhundert nicht verrauchten Zorn meines Bruders? »Er hat extra für mich eine Gruppe D geschaffen. Ich habe Jahre gebraucht, um meinen Hass auf die Musik loszuwerden.«
    In dieser Schule brach die Musik jeden Morgen mit einer dröhnenden Orgel und unsinnigen Chorälen über uns herein. »There is a green hill far away / Without a city wall / Where the dear Lord was crucified / Who died to save us all.« Die Melodie war nicht ganz so trübselig wie viele andere; aber wieso sollte man überhaupt eine Stadtmauer um einen grünen Hügel herum bauen? Später, als ich begriff, dass »without« hier »außerhalb« heißt und nicht »ohne«, zerbrach ich mir den Kopf über das Wort »green«. Da soll ein grüner Hügel liegen? In Palästina? Wir trugen jetzt schon lange Hosen und hatten nicht mehr viel Geografie (wer schlau war, wählte das Fach ab), doch selbst ich wusste, dass es dort nichts als Sand und Steine gab. Ich kam mir nicht vor wie ein Anthropologe unter Kannibalen – der Skeptizismus hatte in meinen Kreisen genügend Anhänger –, spürte aber doch eine Kluft zwischen mir vertrauten Wörtern und der ihnen zugeschriebenen Bedeutung.
    Einmal im Jahr, am Lord Mayor’s Prize Day, sangen wir »Jerusalem«, das zur Schulhymne erkoren worden war. Ungezogene Jungen – eine Bande von unverbesser lichen niederen Stimmen – brachen an einer bestimmten Stelle traditionsgemäß in ein nicht vorgesehenes und mit Stirnrunzeln
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