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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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oder ihm direkt ins Gesicht geschrien.
    De Goësbriand hatte gerade sein fünfundzwanzigjähriges Priesterjubiläum gefeiert und eine sehr direkte Glaubensauffassung. Er war entsetzt, als er eines Tages ein Gespräch zwischen Père Marais und mir mit anhörte und feststellen musste, dass ich nicht getauft war. Pauvre Hubert machte sich sogleich Sorgen um mich und legte mir die fatalen theologischen Folgen dar: Als Ungetaufter hätte ich keine Chance, in den Himmel zu kommen. Vielleicht lag es an meinem Außenseiterstatus, dass er mir manchmal die Frustrationen und Restriktionen des Priesterlebens anvertraute. Einmal bekannte er verhalten: »Sie glauben doch nicht, ich würde das alles auf mich nehmen, wenn ich am Ende nicht in den Himmel käme?«
    Damals war ich halb beeindruckt von solch praktischem Denken, halb entsetzt über ein in vergeblicher Hoffnung vergeudetes Leben. Dabei stand Père de Goësbriands Rechnung in einer großen Tradition, und ich hätte sie als eine Alltagsausgabe der berühmten Pascal’schen Wette erkennen können. Diese Wette klingt ganz einfach. Wenn man an Gott glaubt, und es stellt sich heraus, dass es Gott gibt, hat man gewonnen. Wenn man an Gott glaubt, und es stellt sich heraus, dass es keinen Gott gibt, hat man verloren, aber längst nicht so hoch, als wenn man nicht an Gott geglaubt hätte und nach dem Tod feststellen müsste, dass es ihn doch gibt. Das mag weniger eine Beweisführung sein als vielmehr eine eigennützige Interessenvertretung, die des französischen diplomatischen Corps würdig wäre; allerdings geht die Hauptwette auf die Existenz Gottes mit einer zweiten, zeitgleichen Wette auf das Wesen Gottes einher. Was wäre, wenn Gott nicht so ist, wie man ihn sich vorstellt? Wenn er zum Beispiel etwas gegen Spieler hat, besonders gegen solche, deren vorgeblicher Glaube an ihn auf einer Hütchenspielermentalität beruht? Und wer entscheidet darüber, wer gewinnt? Wir nicht – womöglich liebt Gott ja den ehrlichen Zweifler mehr als den berechnenden Schleimer.
    Die Pascal’sche Wette zieht sich durch alle Jahrhunderte, und immer wieder schlägt jemand ein. Ein Mann ging gleich aufs Ganze. Er ließ sich im Juni 2006 im Kiewer Zoo an einem Seil in das abgesonderte Gehege mit den Löwen und Tigern hinab. Dabei rief er der gaffenden Menge etwas zu. Ein Zeuge will den Satz gehört haben: »Wer an Gott glaubt, dem können Löwen nichts anhaben«, ein anderer den noch provozierenderen: »Gott wird mich retten, wenn es ihn gibt.« Der metaphysische Provokateur kam unten an, zog die Schuhe aus und ging auf die Tiere zu; worauf ihn eine aufgebrachte Löwin zu Boden schlug und ihm die Halsschlagader durchbiss. Beweist das, a) dass der Mann verrückt war, b) dass es keinen Gott gibt, c) dass es einen Gott gibt, der sich aber nicht mit so billigen Tricks hervorlocken lässt, d) dass es einen Gott gibt und er sich eben als Ironiker erwiesen hat oder e) nichts von alledem?
    Ein andermal hört sich die Wette fast nicht mehr nach einer Wette an: »Glaube du! Es schadet nicht.« Diese verwässerte Fassung, das matte Gemurmel eines Menschen mit metaphysischen Kopfschmerzen, stammt aus Wittgensteins Aufzeichnungen. Wenn man selbst ein Gott wäre, fände man so eine lauwarme Rückenstärkung wohl nicht sonderlich eindrucksvoll. Wahrscheinlich ist es zuweilen wirklich so, dass es »nicht schadet« – es ist nur nicht wahr, und das mag manch einer für einen absoluten, unbestreitbaren Schaden halten.
    Ein Beispiel: Zwanzig Jahre vor diesem Eintrag arbeitete Wittgenstein als Lehrer in verschiedenen abgelegenen Dörfern Niederösterreichs. Bei den Einheimischen galt er als streng und exzentrisch, doch seinen Schülern herzlich zugetan; außerdem als ein Mann, der trotz seiner religiösen Zweifel jeden Tag bereitwillig mit einem Vaterunser begann und beendete. Als Wittgenstein in Trattenbach unterrichtete, machte er mit seinen Schülern einen Ausflug nach Wien. Der nächste Bahnhof war im neunzehn Kilometer entfernten Gloggnitz, daher begann der Ausflug mit einer Lehrwanderung durch den dazwischen liegenden Wald, bei der die Kinder Pflanzen und Steine bestimmen sollten, die sie im Unterricht kennengelernt hatten. In Wien taten sie zwei Tage lang dasselbe mit Beispielen aus Architektur und Technik. Dann fuhren sie mit der Bahn nach Gloggnitz zurück. Bei ihrer Ankunft dämmerte es bereits. Sie machten sich auf den neunzehn Kilometer langen Rückweg. Da Wittgenstein spürte, dass viele Kinder Angst
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