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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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hatten, ging er von einem zum anderen und fragte leise: »Hast du Angst? Dann denke nur an Gott.« Sie tappten wortwörtlich im Dunkeln. Glaube du! Es schadet nicht. Und vermutlich hat es auch nicht geschadet. Ein nicht existierender Gott kann die Menschen zumindest vor nicht existierenden Elfen, Kobolden und Waldgeistern beschützen, wenn auch nicht vor tatsächlich existierenden Wölfen und Bären (und Löwinnen).
    Ein Wittgensteinforscher meint, der Philosoph sei zwar kein religiöser Mensch gewesen, habe aber in gewissem Sinn die Möglichkeit einer Religion zugelassen; allerdings habe sich seine Vorstellung von Religion weniger auf den Glauben an einen Schöpfer gegründet als vielmehr auf den Begriff der Sünde und den Wunsch nach einem göttlichen Strafgericht. Wittgenstein schrieb, das Leben könne zum Glauben an Gott erziehen – dies ist eine seiner letzten Auf zeichnungen. Er überlegte auch, was er antworten würde, falls man ihm die Frage stellte, ob er nach dem Tod weiterleben werde. Dann werde er sagen, er wisse es nicht: nicht aus den Gründen, die Sie oder ich anführen würden, sondern weil »ich keine klare Vorstellung von dem habe, was ich sage, wenn ich sage ›Ich höre nicht auf zu existieren‹«. Ich glaube, das gilt für viele von uns, außer für fundamentalistische Selbstmordtäter, die sich für ihr Opfer einen ganz bestimmten Lohn erwarten. Die Bedeutung dieses Satzes können wir sehr wohl begreifen, nicht aber die weiteren Implikationen.

    Wenn ich mich mit zwanzig als Atheist bezeichnete und mit fünfzig und sechzig als Agnostiker, heißt das nicht, dass ich in der Zwischenzeit mehr Wissen erlangt hätte – nur ein größeres Bewusstsein meiner Unwissenheit. Wie können wir sicher sein, dass wir genug wissen, um zu wissen? Als neodarwinistische Materialisten des einundzwanzigsten Jahrhunderts sind wir der Überzeugung, Bedeutung und Mechanismen des Lebens seien erst seit dem Jahr 1859 völlig geklärt, und halten uns kategorisch für klüger als die leichtgläubigen Betschwestern und Betbrüder, die noch vor Kurzem an eine göttliche Vorsehung, eine heile Welt, die Auferstehung und ein Jüngstes Gericht glaubten. Heute sind wir zwar besser informiert, aber deshalb nicht höher entwickelt und ganz bestimmt nicht intelligenter als sie. Was macht uns so sicher, dass unser Wissen endgültig ist?
    Meine Mutter hätte gesagt – und hat ja auch gesagt –, es sei »mein Alter«, als ließen metaphysische Vorsicht und schiere Angst mich jetzt, da das Ende nähergerückt ist, in meiner Überzeugung wanken. Doch da hätte sie sich getäuscht. Bei mir setzte das Todesbewusstsein schon früh ein, mit dreizehn oder vierzehn Jahren. Der französische Kritiker Charles du Bos, Freund und Übersetzer von Edith Wharton, hat einen passenden Begriff für diesen Moment geprägt: le réveil mortel. Wie ließe sich das am besten übersetzen? »Weckruf zur Sterblichkeit« klingt etwas nach Hotel-Service. »Todeswissen«, »Todeserwachen« – ein bisschen zu germanisch. »Todesbewusstsein«? Doch das lässt eher an einen Zustand als an einen speziellen kosmischen Schlag denken. In mancherlei Hinsicht ist die (erste) schlechte Übersetzung von du Bos’ Ausdruck die treffende: Es ist tatsächlich, als wäre man in einem fremden Hotelzimmer, wo der Wecker noch vom vorherigen Bewohner eingestellt ist, und dann wird man plötzlich zu einer unchristlichen Zeit aus dem Schlaf in Finsternis, Panik und die grausame Erkenntnis gerissen, dass man nur vorübergehend Gast auf dieser Welt ist.
    Vor Kurzem fragte mich mein Freund R., wie oft ich an den Tod denke und unter welchen Umständen. Mindestens einmal an jedem wachen Tag, antwortete ich; dazu kommen periodisch auftretende nächtliche Attacken. Oft dringt die Sterblichkeit als ungebetener Gast in mein Bewusstsein ein, wenn die Außenwelt mir eine offenkundige Parallele bietet: bei Einbruch der Nacht, beim Kürzerwerden der Tage oder am Ende einer langen Wanderung. Etwas origineller ist vielleicht, dass mein Weckruf häufig zu Beginn einer Sportübertragung im Fernsehen schrillt, aus irgendeinem Grund vor allem während des Fünf-(jetzt Sechs-) Länder-Rugbyturniers. Das alles erzählte ich R., wobei ich mich für diese anscheinend maßlose Beschäftigung mit dem Thema entschuldigte. Er erwiderte: »Deine Todesgedanken kommen mir GESUND vor. Nicht ab norm wie bei [unserem gemeinsamen Freund] G. Meine sind hochgradig abnorm. Immer gewesen – so nach dem Motto
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