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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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heran, aß wieder eine Handvoll, redete weiter vom Tod. Plötzlich unterbrach er sich und lachte. »Diese Pistazien haben meine Angst vertrieben. Wisst ihr, wo sie hin ist?« Diese Frage konnten ihm weder die Dichterin noch ihre Mutter beantworten; doch als er nach Moskau zurückfuhr, gaben sie ihm einen ganzen Sack Pistazien mit auf die Reise, »um ihn von der Todesangst zu heilen«.
    Würden G. und ich russische Komponisten spielen, könnte ich ihm mit Schostakowitsch Paroli bieten (und ihn sogar noch übertrumpfen), der ein größerer Komponist war und ebenfalls viel über den Tod grübelte. »Wir sollten mehr über den Tod nachdenken«, sagte er, »und uns an den Gedanken gewöhnen. Die Todesangst darf uns nicht unverhofft überfallen. Wir müssen uns mit dieser Angst vertraut machen, und das geht, indem wir zum Beispiel darüber schreiben. Ich glaube nicht, dass es nur eine Eigenheit alter Männer ist, an den Tod zu denken und darüber zu schreiben. Wenn die Menschen früher mit dem Nachdenken über den Tod anfingen, würden sie meiner Meinung nach weniger dumme Fehler begehen.«
    Er sagte auch: »Vielleicht ist die Todesangst das stärkste aller Gefühle. Manchmal glaube ich, dass es keine tiefere Empfindung gibt.« Diese Ansichten wurden nicht öffentlich geäußert. Schostakowitsch wusste, dass der Tod in der sowjetischen Kunst kein Thema war – es sei denn in Form heldenhaften Märtyrertums –, dass die Beschäftigung damit etwa so war, als würde man sich »in aller Öffentlichkeit die Nase am Ärmel abwischen«. Aus seinen Partituren durfte kein Dies Irae lodern, er musste sich musikalisch bedeckt halten. Dennoch fand der vorsichtige Komponist immer häufiger den Mut, mit dem Ärmel über die Nasenlöcher zu streifen, vor allem in seiner Kammermusik. In den letzten Werken gibt es oft ausgedehnte, langsame, meditative Beschwörungen der Sterblichkeit. Der Bratschist des Beethoven-Quartetts bekam von dem Komponisten für den ersten Satz seines fünfzehnten Quartetts einst den Rat: »Spielen Sie das so, dass die Fliegen in der Luft tot umfallen.«
    Als mein Freund R. bei Desert Island Discs über den Tod sprach, konfiszierte die Polizei sein Gewehr. Als ich dasselbe tat, bekam ich mehrere Briefe des Inhalts, ich könne von meinen Ängsten geheilt werden, wenn ich Einkehr hielte, mich dem Glauben öffnete, zur Kirche ginge, beten lernte und so weiter. Die theologische Pistazienschüssel. Direkt überheblich waren meine Briefpartner nicht – manche waren sentimental, andere streng –, aber sie schienen davon auszugehen, dass mir ihre jeweilige Lösung neu wäre. Als gehörte ich zu einem Völkerstamm im Regenwald (wobei mir in dem Fall auch eigene Rituale und Glaubenssätze zur Verfügung stünden), dabei sprach ich zu einer Zeit, da die christliche Religion in meinem Land allmählich ausstirbt, unter anderem deshalb, weil Familien wie meine seit hundert und mehr Jahren nicht mehr daran glauben.

    Über diese hundert Jahre kann ich den Stammbaum meiner Familie in etwa zurückverfolgen. Ich bin, mangels Alternative, zu unserem Archivar geworden. Sämtliche Unterlagen liegen in einer flachen Schublade wenige Meter von der Stelle entfernt, an der ich sitze und schreibe: Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden; Testamente und Testamentsvollstreckerzeugnisse; berufliche Zeugnisse, Referenzen und Bescheinigungen; Pässe, Bezugsscheine, Identity Cards (und cartes d’identité ); Alben, Notizbücher und Andenken. Hier liegen die Texte der von meinem Vater verfassten Couplets (vorzutragen im Smoking, ans Klavier gelehnt und zur dezenten Nachtclub-Begleitung eines Schulkollegen oder Militärkameraden), seine signierten Speisekarten, Theaterprogramme und halb ausgefüllten Cricket-Scorecards. Hier liegt das Merkheft meiner Mutter für die Bewirtung von Gästen, liegen ihre Listen für Weihnachtskarten und Aufstellungen von Aktien und Wertpapieren. Da sind die Telegramme und Aerogramme meiner Eltern aus Kriegszeiten (aber keine Briefe). Da sind die Schulzeugnisse und Atteste ihrer Söhne, die Programme ihrer Schulfeste, ihre Schwimm- und Sporturkunden – wie ich sehe, war ich 1955 Sieger im Weitsprung und Dritter im Gummistiefellauf, während mein Bruder einmal mit Dion Shirer zusammen Zweiter im Schubkarrenrennen wurde – samt Belegen für längst vergessene Leistungen wie meine Urkunde für vorbildliche Aufmerksamkeit in einem Grundschulhalbjahr. Da liegen auch Großvaters Medaillen aus dem Ersten
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