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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein
Autoren: Herta Mueller
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    ZWISCHEN den kleinen Dörfern unter Radarschirmen, die sich in den Himmel drehten, standen Soldaten. Hier war die Grenze des anderen Landes gewesen. Die steile Küste, die halb in den Himmel reichte, das Gestrüpp, der Strandflieder waren für Irene das Ende des anderen Landes geworden.
    Am deutlichsten sah Irene dieses Ende am Wasser, das zuschlug und wegfloß. Das kurz zuschlug und lange wegfloß, weit hinter die schwimmenden Köpfe, bis es den Himmel bedeckte.
    In diesem losgelösten Sommer spürte Irene zum ersten Mal das Wegfließen des Wassers weit draußen näher als den Sand unter den Füßen.
    An den Treppen der Steilküste, wo Erde bröckelte, sah Irene wie in all den anderen Sommern die Warntafeln stehen: »Erdrutschgefahr.«
    Die Warnung hatte in diesem losgelösten Sommer zum ersten Mal wenig mit der Küste und viel mit Irene zu tun. Die Steilküste war wie gebaut aus Erdbrocken und Sand, wie gebaut von Soldaten, damit der Sog nicht ins Land, nicht ins Innere kam, von irgendwo her.
    Am Abend waren die Soldaten betrunken. Sie gingen wieder auf und ab. Die Flaschen klirrten im Gestrüpp. Weitab von den Kegelbahnen, von den tanzenden Sommerkleidern in den Kneipen standen sie, die Soldaten,unter den Trichtern der Radarschirme. Die fingen nur Licht ein und den Wechsel der Farben im Wasser. Sie gehörten der Grenze des anderen Landes, wie die Soldaten der Grenze des anderen Landes gehörten.
    Himmel und Wasser waren gleich in der Nacht.
    Der Himmel glimmte vor sich hin, unruhig mit verstreuten Sternen, getrieben von Ebbe und Flut. Er blieb schwarz und still. Und das Wasser tobte.
    Wenn das Wasser längst dunkel war, die Wellen hoch, war der Himmel noch grau, bis die Nacht kam, von unten.
    Zwei Stunden, bis die Musik der Rockband aus der kleinen Kneipe neben dem Dorf zu hören gewesen war, war Irene die Küste entlanggegangen. Jeden Abend zwei Stunden.
    Es sollten Spaziergänge sein.
    Am ersten Abend hatte Irene auf den Himmel hinaus und aufs Wasser geschaut. Dann hatte sich ein Strauch anders als die anderen Sträucher bewegt. Nicht vom Wind.
    Hinter dem Strauch stand ein Mann. Lauter, als das Wasser schlug, und doch mit einer Stimme, als würde er flüstern, sagte der Mann:
    Schau mich an. Lauf nicht weg. Ich tu dir nichts. Ich will nichts von dir. Ich will dich nur sehen.
    Irene war stehengeblieben.
    Der Mann rieb sein Glied. Keuchte. Das Meer nahm seine Stimme nicht mit.
    Dann tropften seine Fingernägel. Dann war sein Mund zerbrochen und sein Gesicht weich und alt. Das Wasser schlug. Der Mann schloß die Augen.
    Irene kehrte ihm den Rücken zu. Irene fror. Sah Rauch aufsteigen am Ende der Bucht, wo die Kähne standen.
    Der Strauch bewegte sich vom Wind. Der Mann war weg.
    Irene ging nicht ans Ende der Bucht. Wollte keine Menschen sehn. Wo Kähne standen, wo Rauch aufstieg, jetzt kein Gesicht.
    Dann waren die Tage, die kamen, hell und leer gewesen.
    Irene lebte an all den Tagen auf den Abend zu. Die Abende schnürten die Tage zusammen. Die Halsschlagader klopfte, der Pulsschlag und die Schläfen. So fest schnürten die Abende die Tage zusammen, daß es fast reichte, den ganzen losgelösten Sommer noch zu halten.
    Die Abende waren keine Spaziergänge gewesen. Irene ging auf den Zeigern der Uhr.
    Irene war pünktlich.
    Der Mann war pünktlich.
    Jeden Abend stand der Mann halb bedeckt vom Laub hinter demselben Strauch. Irene kam durch den Sand. Er hatte die Hose schon aufgeknöpft. Irene blieb stehn.
    Er sagte nichts mehr. Irene schaute ihn an. Er keuchte. Keuchte jeden Abend gleich lang. Das Meer spülte die Stimme nicht weg. Sein Mund zerbrach jeden Abend auf die gleiche Art. Auf die gleiche Art wurde sein Gesicht weich und alt.
    Auf die gleiche Art wurde das Wasser lauter, wenn er schwieg. Und der Strauch wurde zahm auf die gleiche Art. Bewegte sich nur noch vom Wind. Jeden Abend.
    Irene suchte diesen Mann am Tag. Und am Abend, wenn er schon weg war. Suchte ihn in der Nähe der Kneipen. Und sah ihn nie. Oder so oft, daß sie ihn nicht erkannte, weil er auf den Straßen und in den Kneipen ein anderer war.
    Es hätte eine Liebe sein können. Doch Irene hatte an den Tagen, als das geschah, zwischen den Abenden, nichts als das Wort Gewohnheit gefunden. Hatte ein Gefühl wie ein Versäumnis. Als wäre sie damals, in der Blöße zwischen Himmel und Sand, nicht zur Besinnung gekommen. Wie konnte Liebe pünktlich sein.
    Irene suchte diesen Mann und fand Franz.
    Sie hatte Franz vor der kleinen Kneipe am Rand des
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