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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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concession per pétuelle liegen, aber wenn dich niemand besucht, kann auch niemand einen Anwalt einschalten, der deine Interessen vertritt, wenn die Kommunalverwaltung plötzlich meint, »perpétuelle« heiße nicht immer und unbedingt »ewig«. (So wurde der Nachbar der Goncourts von »Miss Bluebell« verdrängt.) Dann soll man selbst hier anderen Platz machen, endgültig keinen Raum mehr auf dieser Erde einnehmen, nicht mehr sagen »Ich war auch hier«.
    Das ist also eine weitere logische Unvermeidlichkeit. Wie jeder Schriftsteller einen letzten Leser haben wird, so wird auch jeder Leichnam einen letzten Besucher haben. Damit meine ich nicht den Mann auf dem Schaufelbagger, der die sterblichen Überreste herausholt, wenn der Friedhof verkauft wird, damit man dort neue Vorstadthäuser bauen kann. Ich meine einen entfernten Nachkommen oder, in meinem eigenen Fall, diesen so erfreulich verschrobenen (vielmehr bezaubernd intelligenten) Examenskandidaten – immer noch bibliophil, obwohl das Lesen längst durch raffiniertere Methoden der Vermittlung von Geschichten, Gedanken und Gefühlen ersetzt wurde –, der eine merkwürdige und einsame (vielmehr absolut bewundernswerte) Zuneigung zu längst vergessenen Romanschriftstellern aus dem fernen Druckzeitalter entwickelt hat. Ein letzter Besucher ist aber etwas ganz anderes als dieser letzte Leser, dem ich riet, sich zu verziehen. Der Besuch von Gräbern ist keine Freizeitbeschäftigung in geselliger Runde; da werden keine Tipps ausgetauscht, wie andere Briefmarken tauschen. Darum will ich meinem Studenten/ meiner Studentin im Voraus für sein oder ihr Kommen danken und ihn oder sie nicht nach seiner oder ihrer wirklichen Meinung über meine Bücher oder mein Buch oder einen Artikel in einer Anthologie oder diesen Satz fragen. Vielleicht hat mein letzter Besucher sich ja – wie Renard, als er die Goncourts auf dem Montmartre besuchte – Friedhofsspaziergänge angewöhnt, nachdem er vom Arzt eine Todeswarnung bekam und seinen Fayum-Moment erlebte; in dem Fall gilt ihm mein ganzes Mitgefühl.
    Falls ich einmal selbst eine solche Diagnose bekomme, werde ich wohl kaum anfangen, die Toten zu besuchen. Das habe ich bereits zur Genüge getan und habe noch eine Ewigkeit (oder doch so lange, bis »ewig« nicht mehr ewig bedeutet) in ihrer Gesellschaft vor mir. Ich würde meine Zeit lieber mit den Lebenden verbringen und mit Musik, nicht mit Büchern. Außerdem muss ich in diesen letzten Tagen noch einigen Fragen nachgehen. Ob ich nach Fisch rieche, zum Beispiel. Ob die Angst völlig die Herrschaft übernimmt. Ob das Bewusstsein sich spaltet – und ob ich das noch merke. Ob meine Hausärztin und ich uns zusammen auf die Reise machen werden; und ob mir der Sinn danach steht zu verzeihen, Erinnerungen zu beschwören, die Beerdigung zu planen. Ob mich Reue überfällt und ob sie sich vertreiben lässt. Ob mich die Vorstellung lockt – oder trügt –, ein Menschenleben sei doch eine Geschichte und könne Freude bereiten wie ein anständiger Roman. Ob Mut heißt, andere nicht zu schrecken, oder etwas sehr viel Größeres und wahrscheinlich Unerreichbares. Ob ich die Sache mit dem Tod geklärt habe – oder gar etwas mehr als das. Und ob dieses Buch angesichts verspätet eingetroffener Nachrichten ein Nachwort braucht – und zwar eins, in dem die erste Silbe mehr Gewicht bekommt als sonst.
    So sieht es also da aus, wo ich jetzt stehe und – mit ein bisschen Glück und wenn ich meine Eltern zum Maßstab nehmen kann – etwa drei Viertel meines Lebenswegs erreicht habe; auch wenn der Tod bekanntlich ein Widerspruchsgeist ist und jeder Bahnhof, jeder Bürgersteig, jedes überheizte Büro und jeder Fußgängerüberweg Samarra heißen kann. Ich hoffe, es ist noch zu früh, um zu schreiben: Lebe wohl Ich. Auch noch zu früh, dieses Graffito von der Zellenwand zu kritzeln: Ich war auch hier. Aber nicht zu früh, das Wort zu schreiben, das ich, wie mir jetzt auffällt, noch nie in ein Buch eingefügt habe. Jedenfalls nicht hier, auf der letzten Seite:
    ENDE
    Oder wirkt das ein bisschen schrill? Vielleicht doch besser in Groß- und Kleinbuchstaben:
    Ende
    Nein, das sieht nicht … endgültig genug aus. Ein letztes »Was-wäre-dir-lieber«, aber eins, auf das es eine Antwort gibt. Anmerkung für den Setzer: bitte Kapitälchen.
    ENDE
    Ja, ich glaube, so ist es besser. Meinen Sie nicht auch?
     
    JB
London, 2005 – 200 7

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Das Buch
    »Ich glaube nicht an Gott, aber ich
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