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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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dieses beglückende, schwerelose, wundervolle Schweben einsetzt, auf dem jede fiktionale Literatur beruht.
    Dem jungen Schriftsteller werden diese verschiedenen Arten der Wahrhaftigkeit klar vor Augen stehen, und er hat das starke Verlangen, sie miteinander zu verbinden. Dem älteren Schriftsteller erscheinen Erinnerung und Fantasie immer weniger unterscheidbar. Das liegt nicht daran, dass die Welt der Fantasie dem Leben des Schriftstellers in Wirklichkeit viel näher steht, als er zugeben mag (ein verbreiteter Irrtum bei denen, die Literatur in ihre Bestandteile zerlegen); sondern im Gegenteil: Die Erinnerung selbst scheint einem Akt der Fantasie viel näher zu sein als je zuvor. Meinem Bruder sind die meisten Erinnerungen verdächtig. Ich misstraue ihnen nicht, sondern vertraue ihnen, weil hier die Fantasie am Werk ist, weil sie eine fantasievolle – im Unterschied zur naturalistischen – Wahrheit enthalten. Ford Madox Ford konnte zur gleichen Zeit und im selben Satz ein gewaltiger Lügner und ein gewaltiger Verkünder der Wahrheit sein.

    Chitry-les-Mines liegt rund zwanzig Meilen südlich von Vézelay. Ein verblichenes blaues Blechschild lädt dazu ein, von der Hauptstraße nach rechts zur Maison de Jules Ren ard abzubiegen, wo der Junge inmitten des stummen Ehekriegs seiner Eltern aufwuchs und der Mann Jahre später die Schlafzimmertür aufbrach, hinter der er seinen durch Selbstmord geendeten Vater fand. Ein zweites Blechschild und ein zweites Abbiegen nach rechts führt zu dem Monu ment de Jules Renard, dessen Errichtung er seiner Schwester wenige Monate vor seinem Tod zum Scherz auftrug: »Heute Morgen haben wir überlegt, wer dafür sorgen würde, dass meine Büste auf dem kleinen Platz in Chitry aufgestellt wird. Wir dachten sofort, das könnten wir dir überlassen …« Der »kleine Platz«, ein mit Linden bepflanztes Dreieck vor der Kirche, wurde zwangsläufig zur Place Jules Renard. Die Bronzebüste des Schriftstellers steht auf einer Steinsäule, an deren Sockel ein grübelnder Poil de Carotte sitzt, der traurig und frühreif wirkt. An der anderen Seite der Säule erhebt sich ein steinerner Baum, dessen Laub sich über die Schulter des Schriftstellers ausbreitet: Die Natur umgibt und beschützt ihn im Tod wie im Leben. Es ist eine hübsche Arbeit, und bei der Enthüllung durch André Renard – Apotheker, ehemaliger sozialistischer Abgeordneter und entfernter Cousin – im Oktober 1913 muss es so ausgesehen haben, als sei dies das einzige Denkmal, das dieses abgelegene Dorf je brauchen würde. Es hat die richtige Größe für diesen Platz und sorgt so dafür, dass das nur wenige Meter entfernte Ehrenmal zum Gedenken an den Ersten Weltkrieg sich fast für sein Vorhandensein entschuldigt und die darauf aufgeführten Namen irgendwie weniger wichtig und als ein geringerer Verlust für Chitry erscheinen als sein arteriosklerotischer Chronist.
    Es gibt in diesem weitläufigen Dorf keinen Laden, kein Café, nicht einmal eine dreckige Benzinpumpe; der einzige Grund, warum ein Fremder hier haltmachen sollte, ist Jules Renard. Irgendwo in der Nähe muss der – sicher schon längst zugeschüttete – Brunnen sein, in dem Madame Renard vor einem knappen Jahrhundert zu Tode kam. Die Trikolore auf dem Gebäude gegenüber der Kirche weist es als die mairie aus, in der François Renard wie auch sein Sohn ihres Amtes walteten und wo Jules von einer frisch getrauten Braut auf den Mund geküsst wurde (»Das kostete mich 20 Francs«). Die Teerstraße zwischen mairie und église führt aus dem Dorf hinaus und nach ein paar hundert Metern zum Friedhof, der noch immer in der offenen Landschaft liegt.
    Es ist ein glutheißer Julitag, und der quadratische, abschüssige Friedhof ist so kahl und staubig wie ein Paradeplatz. Am Tor hängt eine Liste mit Namen und den Nummern von Grabstätten. Da ich nicht merke, dass sich das auf ablaufende Konzessionen bezieht, suche ich zuerst den falschen Renard an der falschen Stelle. Das einzige andere (lebende) Wesen auf dem Friedhof ist eine Frau mit einer Gießkanne, die langsam zwischen ihren Lieblingsgräbern herumgeht. Ich frage sie, wo ich den Schriftsteller finden kann. »Da unten links, neben dem Wasserhahn«, lautet die Antwort.
    Tatsächlich liegt der berühmteste Sohn dieses Dorfes in einer Friedhofsecke versteckt. Mir fällt ein, dass Renard père hier als Erster ohne jede religiöse Zeremonie begraben wurde. Vielleicht hat das Familiengrab deshalb einen wenig
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