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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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ehrenvollen Platz neben dem Wasserhahn bekommen (falls der Hahn damals schon da war). Es ist ein quadratisches Grab direkt an der Friedhofsmauer und von einem niedrigen, grün gestrichenen Eisenzaun geschützt; das kleine Tor in der Mitte klemmt durch die vielen Farbschichten und lässt sich nur mit einem gewissen Kraftaufwand öffnen. Gleich hinter diesem Tor stehen zwei stei nerne Blumenkübel. Das klobige Grabmal liegt waagerecht am hinteren Ende der Anlage und wird von einem großen, in Stein gearbeiteten Buch überragt, auf dessen aufgeschlagener Doppelseite die Namen der darunter Liegenden verzeichnet sind.
    Und da sind sie denn alle, jedenfalls sechs von ihnen. Der Vater, der dreißig seiner vierzig Ehejahre nicht mit seiner Frau sprach, der über die Vorstellung lachte, dass er sich mit einer Pistole umbringen könnte, und stattdessen ein Gewehr nahm. Der Bruder, der die Zentralheizung in seinem Büro für seinen Todfeind hielt, der mit dem Pariser Telefonbuch unter dem reglosen Kopf auf einer Couch lag und dessen Ende Jules über »den Tod und seine idiotischen Tricks« zürnen ließ. Die Mutter, die nach einem geschwätzigen Leben schließlich von einem »unbegreiflichen« Tod zum Schweigen gebracht wurde. Der Schriftsteller, der sie alle in seinen Werken verewigte. Seine Frau, die als Witwe ein Drittel der Tagebücher ihres Ehemanns verbrannte. Die Tochter, die nie geheiratet hat und hier 1945 unter ihrem Spitznamen Baïe begraben wurde. Damals wurde die tiefe Grube, an deren Rand Jules bei der Bestattung seines Bruders Maurice einen fetten Wurm sich spreizen sah, zum letzten Mal geöffnet.
    Wenn ich diese Gruft betrachte, wenn ich mir vorstelle, wie sie alle dort in drangvoller Enge liegen – nur Amélie, die Schwester des Schriftstellers, und ihr Sohn Fantec sind entwischt –, und an ihre Geschichte von Zank, Hass und Schweigen denke, dann will mir scheinen, Goncourt hätte seinem jüngeren Kollegen seinerseits mit Fug und Recht ein Hé! hé! zurufen können: wegen der Gesellschaft, in der er sich hier befindet, wegen des peinlichen bildhauerischen Klischees eines aufgeschlagenen steinernen Buchs, wegen der geschmacklosen Blumenkübel. Und dann ist da noch die Inschrift, unter der Renard ruht. Sie beginnt wenig überraschend mit »Homme de lettres«, wonach man als Hinweis auf die Familientradition ein »Maire de Chitry« erwarten könnte. Stattdessen wird der Schriftsteller ergänzend als Mitglied »de l’Académie Goncourt« bezeichnet. Das liest sich wie das Flackern eines winzigen Rachegelüsts für den Tagebucheintrag: »… das fanden sie genug«.
    Ich werfe noch einen Blick auf die steinernen Blumenkübel. Einer ist ganz leer, in dem anderen kümmert eine gelbe Konifere vor sich hin, die jedem Gedanken an eine »lebendige Erinnerung« Hohn zu sprechen scheint. Dieses Grab wird ebenso wenig besucht wie das der Goncourts, auch wenn die Nähe des Wasserhahns wohl für etwas Durchgangsverkehr sorgt. Mir fällt auf, dass auf dem steinernen Buch noch Platz für weitere Einträge ist, darum gehe ich zu der Frau mit der Gießkanne zurück und frage sie, ob es noch Nachkommen der Familie Renard im Dorf oder seiner Umgebung gibt. Sie glaubt das nicht. Ich erwähne, dass seit 1945 niemand mehr in der Gruft beigesetzt wurde. »Ah«, antwortet sie etwas zusammenhangslos, »da war ich in Paris.«
    Es kommt nicht darauf an, was auf dem Grab steht. In der Hierarchie der Toten kommt es allein auf die Zahl der Besucher an. Gibt es etwas Traurigeres als ein unbesuchtes Grab? An Maurices erstem Todestag wurde in Chitry eine Messe für ihn gelesen; nur drei alte Frauen aus dem Dorf nahmen daran teil; Jules und seine Frau legten einen Kranz aus glasiertem Ton auf das Grab. In seinen Tagebü chern notierte er: »Wir schenken den Toten Blumen aus Metall, Blumen, die sich lange halten.« Weiter schrieb er: »Es ist weniger grausam, die Toten nie zu besuchen, als nach einiger Zeit nicht mehr hinzugehen.« Hier bewegen wir uns nicht mehr auf dem Gebiet des »Was sie sich gewünscht hätten«, sondern des »Was hätten sie davon ge halten, wenn sie es gewusst hätten?« Was geschieht mit meinem Bruder in seinem Gartengrab, wenn die grasenden Lamas und seine Witwe auch tot sind und das Haus verkauft wird? Wer kann schon etwas mit einem verwesenden Aristoteles-Experten anfangen, der sich langsam in Mulch verwandelt?
    Es gibt noch etwas Grausameres, als die Toten nicht zu besuchen. Du magst in einer voll bezahlten
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