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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Haken«, war unsere spöttische Zusammenfassung des Afrikafeldzugs. Grandpa hatte uns nie erzählt, dass er unter Monty gedient hatte – nicht einmal seiner eigenen Tochter, die das sicher als Teil der Familiengeschichte erwähnt hätte, sobald wir die Sendung einschalteten.
    Im Tagebucheintrag der Brigade für den 17 . November 1916 ist festgehalten: »Der Armeekommandant sah unlängst in einem Infanteriebataillon einen hochgradig kurzsichtigen und in einem anderen Bataillon einen tauben Mann. Diese würden an der Front eine Gefahr darstellen.« (Ein neues »Was-wäre-dir-lieber«: Wäre man im Ersten Weltkrieg lieber taub oder blind?) Eine andere Notiz der Heeresführung lautet: »Die Anzahl der in der Division im Zeitraum vom 1 . Dezember 1916 bis heute abgehaltenen Kriegsgerichte gibt zu erkennen, dass die Disziplin in der Division zu wünschen übrig lässt.« Bei den 17 th Lancashire Fusiliers gab es in diesem Zeitraum 1 Fall von Fahnen flucht, 6 Fälle von Schlaf auf Posten und 2 Verwundungen durch »Unfall« (also vermutlich selbst zugefügt).
    Nichts deutet darauf hin – nichts könnte darauf hindeuten –, dass mein Großvater in diesen Statistiken auftaucht. Er war ein gemeiner Soldat, der sich freiwillig gemeldet hatte, für die mittlere Kriegsperiode nach Frankreich verschifft und vom Private zum Sergeant befördert wurde. Er wurde als dienstuntauglich entlassen, weil er (wie ich es immer verstanden hatte) an Fußbrand litt, »einer schmerzhaften Krankheit, die von längerem Stehen in Wasser oder Schlamm verursacht wird und mit Ödemen, Blasenbildung und einem gewissen Maß an Nekrose einhergeht«. Zu einem unbekannten Zeitpunkt kehrte er nach England zurück und wurde am 13 . November 1917 mit zwanzig Regimentskameraden als »körperlich nicht mehr diensttauglich« entlassen. Da war er achtundzwanzig Jahre alt und wurde in den Entlassungspapieren merkwürdigerweise – ich vermute irrtümlich – als Private aufgeführt. Und entgegen der Erinnerung meines Bruders wurde er tatsächlich mit Orden ausgezeichnet, wenn auch der untersten Stufe, die man für schlichte Anwesenheit bekommt: die British War Medal, die für den Aufenthalt an einem Kriegsschauplatz verliehen wird, und die Victory Medal, die alle Mannschaftsgrade bekommen, die in einem Einsatzgebiet dienten. Auf der Rückseite dieser Medaille steht »The Great War for Civilization 1914 – 1919 «.
    Und damit sind Erinnerungen wie Erkenntnisse auch schon erschöpft. Diese Bruchstücke sind alles, was wir haben, und mehr ist nicht zu erfahren. Da ich mich aber nicht aus Pietät gegenüber der Familie auf die Suche machte, bin ich nicht enttäuscht. Die Militärzeit meines Großvaters, ihre Geheimnisse und sein Schweigen dienen mir als Beispiel. Erstens dafür, wie man sich täuschen kann: Ich musste entdecken, dass »Bert Scoltock, so getauft, so genannt, so eingeäschert« sein Leben auf dem Standesamt von Driffield im County York im April 1889 in Wirklichkeit als Bertie begann und bei der Volkszählung von 1901 immer noch Bertie war. Zweitens als Beispiel dafür, wie viel man herausfinden kann und was man damit anfängt. Denn ein Romanschriftsteller setzt oft bei dem an, was man nicht herausfinden kann und was man damit dann anfängt. Wir (womit ich »ich« meine) brauchen ein bisschen, aber nicht viel; viel ist schon zu viel. Wir beginnen mit einem Schweigen, einem Geheimnis, einem fehlenden Teil, einem Widerspruch. Hätte ich entdeckt, dass Grandpa einer der sechs war, die auf Posten schliefen, dass der Feind währenddessen angekrochen kam und einige seiner Kameraden bei den Fusiliers abschlachtete und dass das bei ihm große Reue auslöste, die er dann mit ins Grab nahm (und wenn ich das alles beim Ausräumen eines alten Bankschließfachs in einer handgeschriebenen eidesstattlichen Erklärung entdeckt hätte – man beachte die reuig-zittrige Unterschrift), dann hätte mich das als Enkel zufriedengestellt, als Schriftsteller aber nicht. Es hätte die Geschichte – oder die potenzielle Geschichte – verdorben. Ich kenne einen Schriftsteller, der gern auf Parkbänken herumsitzt und fremden Gesprächen lauscht; doch sobald er mehr zu erfahren droht, als er beruflich braucht, macht er sich davon. Nein, das, was fehlt, das Geheimnis – das müssen wir (er und ich) allein lösen.
    Darum wandert mein Blick in »Scenes from Highways & Byways« nicht zu Großonkel Percy in Blackpool, Schwester Glynn oder Sgt P. Hyde, gefallen Dez. 1915 ,
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