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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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überreichte ihm »als Sprecher einer Gruppe von Jungen aus der Abteilung Holzarbeiten« eine »Holzschale für Nüsse mit Hammer«. An dieses letzte Geschenk erinnere ich mich sehr genau, da es im Bungalow meiner Großeltern immer zur Schau gestellt, aber niemals benutzt wurde. Als es schließlich in meinen Besitz kam, verstand ich auch warum: Es war auf kuriose Weise unpraktisch – der Hammer verspritzte Nussschalensplitter im ganzen Zimmer und pulverisierte dabei die Nüsse. Ich hatte immer geglaubt, Grandpa habe Schale und Hammer selbst gemacht, da fast alle hölzernen Gegenstände in Haus und Garten, vom Spankorb über den Bücherwagen bis zum Gehäuse der Standuhr, eigenhändig von ihm gesägt, geschmirgelt, abgeschrägt und verdübelt worden waren. Er brachte Holz große Achtung entgegen und blieb dabei bis zum Ende konsequent. Vor lauter Entsetzen darüber, dass ein Sarg aus guter Eiche und Rüster ein, zwei Tage später zu Asche werden würde, bestimmte er, dass sein eigener aus Kiefernholz bestehen sollte.
    Die goldene Taschenuhr liegt nun schon Jahrzehnte in meiner obersten Schreibtischschublade. Sie hat eine goldene Kette, damit man sie auf einer Weste tragen kann, und ein Lederband, falls man sie lieber aus dem Reversknopfloch in die Brusttasche baumeln lassen will. Ich lese die Inschrift auf der Rückseite des Gehäuses: »Für Mr B. Scoltock von den Lehrern, Mitarbeitern, Schülern und Freunden zum Abschied nach 18 Jahren als Rektor der Bayston Hill C of E School. 30 . Juni 1931 .« Ich hatte keine Ahnung, dass es meinen Bruder je nach dieser Uhr gelüstet hatte, darum sage ich ihm, nachdem er diese sündige Regung über vierzig Jahre ertragen habe, gehöre das gute Stück jetzt ihm. »Was die Sprungdeckeluhr angeht«, antwortet er, »so glaube ich, er hätte gewollt, dass du sie behältst.« Er hätte gewollt? Mit diesem hypothetischen Wunsch eines Toten will mein Bruder mich wohl auf den Arm nehmen. Weiter schreibt er: »Und was wichtiger ist – ich will jetzt, dass du sie behältst.« In der Tat, wir können nur das tun, was wir selbst wollen.
    Ich befrage meinen Bruder zum Thema Grandpa und Reue. Er hat zwei Erklärungen zu bieten, wovon »die erste vielleicht allzu banal« ist: anhaltende Scham darüber, dass er seinen Enkel verprügelt hat, weil der die Zwiebeln herausgezogen hatte. Die zweite, gewichtigere Vermutung ist die: »Wenn er mir Geschichten [über den Ersten Weltkrieg] erzählte, hörten sie da auf, wo das Schiff nach Frankreich auslief, und fingen dann in einem Krankenhaus in England wieder an. Über den Krieg selbst hat er kein Wort zu mir gesagt. Ich nehme an, er war in den Schützengräben. Er hat keinen Orden bekommen, da bin ich mir sicher, und wurde auch nicht verwundet (nicht mal ein Heimatschuss). Demnach wurde er wohl wegen Fußbrands als dienstuntauglich entlassen? Oder wegen Kriegsneurose? Jedenfalls etwas nicht unbedingt Heldenhaftes. Hat er seine Kameraden im Stich gelassen? Irgendwann wollte ich mal herausfinden, was er im Krieg wirklich gemacht hat – es gibt doch sicher Regimentsbücher etc.; aber natürlich habe ich dann doch nichts unternommen.«
    In meiner Archivschublade liegen Grandpas Geburtsurkunde, seine Heiratsurkunde und sein Fotoalbum – das Buch mit dem roten Leineneinband und dem Titel »Scenes from Highways & Byways«. Da sitzt Grandpa 1912 rittlings auf einem Motorrad, und Grandma hockt auf dem Rücksitz; im Jahr darauf drückt er spitzbübisch den Kopf an ihren Busen und umfasst mit der Hand ihr Knie. Hier sieht man ihn an seinem Hochzeitstag, die Hand um die Schulter seiner Braut, die Pfeife vor der weißen Weste, während Europa Anstalten macht, sich selbst in Schutt und Asche zu legen; in den Flitterwochen (eine Studioaufnahme, die weniger verblasst ist); und mit der zehn Monate nach der Hochzeit geborenen »Babs«, wie meine Mutter genannt wurde, bevor sie Kathleen Mabel wurde. Es gibt Bilder von ihm auf Heimaturlaub, erst mit zwei Streifen am Ärmel – Prestatyn, August 1916  –, dann sind es schließlich drei. Da ist Sergeant Scoltock bereits im Grata-Quies-Krankenhaus bei Bournemouth, wo er und die anderen Insassen bemerkenswert keck aussehen, als sie sich für einen musikalischen Abend verkleidet in Positur setzen. Da sieht man meinen Großvater mit schwarz geschminktem Gesicht erst mit einem gewissen Decker (als Krankenschwester kostümiert), dann mit Fullwood (als Pierrot). Und da ist wieder dieses Foto, das Bildnis einer Frau,
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