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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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profanes Anliegen, und vielleicht haben die Worte »Ich bin Schriftsteller« in Italien etwas mehr Gewicht als in Großbritannien. Verständnisvoll riet er mir, meinen Reiseführer in die Tasche zu stecken und beim »Beten« nicht wieder hervorzuholen; dann hakte er das Absperrseil auf.
    Ich gab mir Mühe, in meiner Ferienkleidung einen möglichst würdigen Eindruck zu machen, während ich diesen reservierten Winkel der Kirche durchquerte. Doch in all diesen heiligen Bereichen war an einem Donnerstagnachmittag um halb drei nicht ein einziger Frommer – geschweige denn ein Priester oder Mönch – zu sehen. Auch die Niccolini-Kapelle war völlig verlassen. Die vier Volterranos hängen immer noch so hoch oben an den Wänden, dass man sich den Nacken verrenkt; vor Kurzem wurden sie gereinigt und erweisen sich nun noch deutlicher als gelungene, aber keineswegs herausragende Werke des Barock. Das kam mir jedoch ganz gelegen: je gewöhnlicher die Gemälde, desto besser die Story. Und desto nachdrücklicher natürlich die darin enthaltene Warnung an unseren eigenen, zeitgenössischen Geschmack. Wartet’s nur ab, scheinen diese Sibyllen zu warnen. Auch wenn die Zeit einen Volterrano nicht zu einem Giotto macht, sorgt sie doch mit Sicherheit dafür, dass du wie ein törichter, der Mode folgender Dilettant aussiehst. Das erledigt jetzt die Zeit, da Gott keine Urteile mehr fällt.
    Außer von den Volterranos fühlte Stendhal sich in Santa Croce noch von einem anderen Gemälde über die Maßen erregt. Es zeigte den Abstieg Christi in die Vorhölle – die der Vatikan vor Kurzem abgeschafft hat – und versetzte Stendhal »zwei Stunden lang in bebende Erregung«. Man hatte Beyle, der damals an seiner Geschichte der italienischen Malerei arbeitete, gesagt, das Bild sei von Guercino, den er »aus tiefstem Herzen verehrte«; zwei Stunden später schrieb eine andere Quelle es (richtig) Bronzino zu, »ein Name, den ich bisher nicht kannte. Diese Entdeckung verdross mich sehr«. An der Wirkung des Bildes änderte das jedoch nichts. »Ich war beinahe zu Tränen gerührt«, schrieb er in sein Tagebuch. »Noch jetzt bei der Niederschrift treten sie mir in die Augen. Ich habe noch nie etwas so Schönes gesehen … Nie hat die Malerei mir eine solche Freude bereitet.«
    Eine solche Freude, dass er in Ohnmacht fällt? Und wenn schon nicht Freude über die Giottos (was Stendhal nie behauptet hat; es war Wunschdenken, ihm das im Nachhinein zu unterstellen), so doch über Volterrano im Verein mit Bronzino? Tja, da stellt sich noch ein letztes Problem. Das Stendhal-Syndrom, dessen Entdeckung er 1826 so stolz für sich in Anspruch nimmt – wenn auch nicht so benennt –, ist 1811 offenbar nicht aufgetreten. Die berühmte Episode am Portal von Santa Croce – das heftige Herzklopfen, der versiegende Lebensquell – war ihm zunächst keinen Tagebucheintrag wert. Eine vage Entsprechung findet sich höchstens in den Sätzen, die auf »Nie hat die Malerei mir eine solche Freude bereitet« folgen. Beyle fährt fort: »Dabei war ich halb tot vor Müdigkeit, meine Füße waren geschwollen, und die neuen Stiefel drückten. Dieser kleine Schmerz könnte mir Gott in all seiner Glorie verleiden, aber vor jenem Bilde vergaß ich alles. Mon Dieu, wie ist das schön!«
    So lösen sich alle verlässlichen Anzeichen eines Stendhal-Syndroms vor unseren Augen praktisch in Luft auf. Es geht aber nicht darum, dass Stendhal übertrieb, fabulierte, sich als Gedächtniskünstler gerierte (und Beyle die Wahrheit sagte). Das macht die Sache nur noch interessanter, denn nun wird es eine Geschichte über Erzählung und Erinnerung. Erzählung: Die Wahrheit der Geschichte eines Schriftstellers ist die Wahrheit ihrer endgültigen Gestalt, nicht die ihrer ersten Fassung. Erinnerung: Es ist anzunehmen, dass Beyle immer aufrichtig war, ob er nun mit wenigen Stunden Abstand von einem Ereignis berichtet oder nach Ablauf von fünfzehn Jahren. Man beachte auch, dass Beyle von dem Bronzino »beinahe zu Tränen gerührt« war, sie »traten ihm in die Augen«, als er Stunden später über die Sibyllen schrieb. Die Zeit führt nicht nur zu erzählerischen Varianten, sondern auch zu stärkeren Emotionen.
    Und wenn die Geschichte von Santa Croce bei forensischer Untersuchung auch zu verlieren scheint, so handelt sie doch auch in ihrer ursprünglichen, unkorrigierten Fassung noch davon, dass ästhetische Freude stärker ist als religiöse Verzückung. Wäre Beyle zum Beten in die
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