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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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mutierte und vielleicht nicht ganz so glückliche andere schrumpfen, dann auf den einen glücklichen – oder gelangweilten – allerletzten Leser. Für jeden von uns kommt der Moment, wo der einzig verbleibende Faden dieser seltsamen, verborgenen und dabei zutiefst intimen Beziehung zwischen Schriftsteller und Leser abreißt. Irgendwann wird es auch für mich einen letzten Leser geben. Und dann wird dieser Leser sterben. In der großen Demokratie der Leserschaft sind zwar theoretisch alle gleich, aber einige sind doch gleicher als andere.
    Mein letzter Leser/ meine letzte Leserin: Die Versuchung ist groß, seinet- oder ihretwegen sentimental zu werden (falls es die Kategorien »er« und »sie« in der Welt noch gibt, in die uns die Evolution führt). Ja, als Autor wollte ich dem letzten Augenpaar – falls sich Augen nicht auch zu etwas anderem entwickelt haben –, das dieses Buch, diese Seite, diesen Satz anschaut, schon ein Lob- und Danklied singen. Doch dann setzte die Logik wieder ein: Der letzte Leser ist per definitionem jemand, der die Bücher niemandem weiterempfiehlt. Du mieser Hund! Meine Bücher sind dir wohl nicht gut genug, ja? Du liest lieber den trivialen Mist, der in deinem seichten Jahrhundert angesagt ist (und/oder den bleischweren Mist, der dich dazu bringt, mich trivial zu finden)? Ich wollte dein Hinscheiden schon betrauern, aber jetzt tröste ich mich schnell darüber hinweg. Du willst mein Buch also wirklich niemand anderem aufnötigen? Du bist tatsächlich so gemein, so hohlköpfig, so bar jedes Urteilsvermögens? Dann hast du mich nicht verdient. Los, verzieh dich und stirb. Ja, du bist gemeint.
    Da werde ich mich selbst längst verzogen haben und gestorben sein, auch wenn ich noch nicht weiß oder – wie Stendhal – voraussagen kann woran. Ich hatte angenommen, meine Eltern würden als letzten Akt der Machtausübung mein Ende bestimmen; aber auf die Eltern ist nicht immer Verlass, vor allem, wenn sie schon tot sind. Mary Wesley verließ sich zum Missfallen meiner Hausärztin auf das berühmte Familientalent, plötzlich umzukippen – tot umzufallen wie eine Fliege, die Schostakowitschs fünfzehntes Quartett hört. Doch als es dann so weit war, musste sie feststellen, dass ihre Familie versäumt hatte, ihr diese Erbanlage oder dieses wiederholte Glück mitzugeben. Stattdessen starb sie langsamer als erhofft an Krebs – aber dennoch mit bewundernswert stoischem Gleichmut. Ein Zeuge berichtet, sie habe sich »nie über ihr unbequemes Bett, das schwere Essen und den schmerzenden, knochendürren Körper beklagt, sie rief nur ab und zu ›Scheiße‹«. Demnach blieb sie sich allem Anschein nach im Sterben treu und konnte zumindest fluchen, anders als mein vom Schlag getroffener und sprachloser Englischlehrer, der nie dazu kam, das angekündigte »Verdammt!« als sein berühmtes letztes Wort auszusprechen.

    Wer heute die Kirche – oder, wie es auf der Eintrittskarte heißt, die »Denkmalsanlage« – Santa Croce in Florenz besichtigen will, muss fünf Euro bezahlen. Man betritt die Kirche nicht wie Stendhal von der Westseite her, sondern durch den Nordeingang und muss gleich darauf eine Entscheidung über Route und Zweck treffen: Die linke Tür ist für diejenigen, die beten wollen, die rechte für Touristen, Atheisten, Ästheten und Müßiggänger. Im riesigen, luftigen Schiff dieser Predigtkirche befinden sich noch immer die Gräber der berühmten Männer, deren Gegenwart Stendhal so zusetzte. Inzwischen ist ein relativer Neuling unter ihnen: Rossini, der 1863 Gott bat, ihm das Paradies zu gewähren. Fünf Jahre später starb der Komponist in Paris und wurde auf dem Père-Lachaise beerdigt; doch wie bei Zola kam ein stolzer Staat daher und entführte seinen Leichnam in sein Pantheon. Ob Gott Rossini das Paradies gewährte, hängt vielleicht davon ab, ob er die Tagebücher der Goncourts gelesen hat. »Alterssünden?« Hier der Tagebucheintrag vom 20 . Januar 1876 : »Gestern Abend kam das Gespräch im Rauchsalon der Prinzessin Mathilde auf Rossini. Wir sprachen von seinem Priapismus und seiner Neigung zu unnatürlichen Praktiken in Liebesdingen; dann von den seltsamen und unschuldigen Vergnügungen, denen sich der alte Komponist in seinen letzten Lebensjahren hingab. Er brachte junge Mädchen dazu, sich bis zur Taille auszuziehen und ihn seine Hände lüstern über ihren Oberkörper streifen zu lassen, und dabei ließ er sie an seinem kleinen Finger lutschen.«
    1824 schrieb
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