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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Inhalt
    Ich glaube nicht an Gott , aber ich vermisse ihn. Das ist meine Antwort auf einschlägige Fragen. Ich habe meinen Bruder, der in Oxford, Genf und an der Sorbonne Philosophie gelehrt hat, um seine Meinung zu diesem Satz gebeten, ohne zu verraten, dass er von mir stammt. Er befand kurz und bündig: »Sentimentaler Quatsch.«
    Am besten fange ich mit meiner Großmutter mütterlicherseits an, Nellie Louisa Scoltock, geborene Machin. Sie arbeitete als Lehrerin in Shropshire, bis sie meinen Großvater heiratete, Bert Scoltock. Nicht Bertram, nicht Albert, einfach nur Bert – so getauft, so genannt, so eingeäschert. Er war Rektor mit einem gewissen Faible für die Technik: stolzer Besitzer eines Motorrads mit Beiwagen, danach eines Lanchester, als Rentner dann Fahrer eines recht protzigen Triumph-Roadster-Sportwagens mit einer Dreiersitzbank vorn und zwei Schalensitzen bei geschlossenem Verdeck. Als ich meine Großeltern kennenlernte, waren sie bereits in den Süden gezogen, um ihrem einzigen Kind nahe zu sein. Großmutter hatte das Women’s Institute absolviert; sie kochte Obst ein, marinierte Gemüse, rupfte und briet die von Großvater aufgezogenen Hühner und Gänse. Sie war klein, zierlich und nach außen hin nachgiebig; im Alter waren ihre Gelenke geschwollen – den Ehering bekam sie nur mit Seife ab. Meine Großeltern hatten einen Kleiderschrank voll selbst gestrickter Jacken, wobei die von Grandpa oft ein maskulines Zopfmuster aufwiesen. Beide gingen regelmäßig zur Fußpflege und gehörten der Generation an, die sich auf zahnärztlichen Rat hin sämtliche Zähne auf einmal ziehen ließ. Das war damals ein gängiges Ritual, dieser Sprung von wackeligen Zähnen zur kompletten Keramik-Garnitur, zu bukkalem Schleifen und Klappern, gesellschaftlicher Peinlichkeit und einem sprudelnden Glas auf dem Nachttisch.
    Der Wechsel von Zähnen zu Gebiss kam meinem Bruder und mir ebenso tiefgreifend wie anrüchig vor. Doch es hatte im Leben meiner Großmutter noch eine andere ungeheure Wende gegeben, die in ihrem Beisein nie erwähnt wurde. Nellie Louisa Machin, Tochter eines Arbeiters in einer Chemiefabrik, war im methodistischen Glauben erzogen worden, während die Scoltocks der Kirche von England angehörten. Als junge Frau verlor meine Großmutter plötzlich ihren Glauben und fand, der Familiensaga zufolge, prompt einen Ersatz: den Sozialismus. Ich habe keine Ahnung, wie stark ihr religiöser Glaube war und wie ihre Familie politisch dachte; ich weiß nur, dass sie einmal bei den Kommunalwahlen als Sozialistin antrat und verlor. Als ich sie in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts kennenlernte, hatte sie sich schon zur Kommunistin gemausert. Sie muss eine der wenigen Rentnerinnen im gutbürgerlichen Buckinghamshire gewesen sein, die den Daily Worker abonniert hatten und – wie mein Bruder und ich uns beharrlich versicherten – etwas vom Haushaltsgeld abzweigten, um es dem Kampffonds der Zeitung zu spenden.
    Ende der fünfziger Jahre kam es dann zum chinesischsowjetischen Schisma, und die Kommunisten der Welt mussten sich zwischen Moskau und Peking entscheiden. Den meisten Getreuen in Europa fiel die Wahl nicht schwer, auch nicht dem Daily Worker, der sich sein Geld wie auch seine Weisungen aus Moskau holte. Meine Großmutter, die zeit ihres Lebens nicht aus England herausgekommen war und in einer beschaulichen Bungalow-Welt lebte, schlug sich aus unbekannten Gründen auf die Seite der Chinesen. Blanker Eigennutz bewog mich, diese mysteriöse Entscheidung zu begrüßen, denn nun kam zum Worker noch die ketzerische Zeitschrift China Reconstructs hinzu, die per Post direkt aus dem fernen Kontinent angeliefert wurde. Die Briefmarken auf den gelblich braunen Umschlägen hob Grandma für mich auf. Diese Marken priesen gern industrielle Errungenschaften – Brücken, Staudämme, vom Fließband rollende Lastwagen – oder zeigten unterschiedliche Tauben in friedlichem Flug.
    Mein Bruder war mir keine Konkurrenz bei diesen Gaben, denn einige Jahre zuvor war es in unserem Haus zu einem Briefmarkensammel-Schisma gekommen. Er hatte beschlossen, sich auf das Britische Empire zu spezialisieren. Um meine Eigenständigkeit zu behaupten, verkündete ich, mein Spezialgebiet sei nunmehr eine Kategorie, die ich – was mir nur logisch erschien – den Rest der Welt nannte. Diese Kategorie definierte sich allein durch das, was mein Bruder nicht sammelte. Ob dies ein Akt der Aggression, der Abwehr oder
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