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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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immer noch mit Bleistift auf Sept. 1915 datiert, aber der Name (oder der Ort) sind ausradiert, und das Gesicht ist so zerstochen und zerkratzt, dass nur noch die Lippen und das drahtige Haar übrig sind. Eine Auslöschung, die diese Frau faszinierender macht als »Schwester Glynn« und selbst »Sgt P. Hyde, gefallen Dez. 1915 «. Eine Auslöschung, die mir ein viel besseres Todessymbol zu sein scheint als der allgegenwärtige Totenkopf. Bevor man nur noch Knochen ist, muss man erst in der Zeit verrotten, und dann gleicht ein Schädel doch sehr dem anderen. Als Langzeitsymbol ist das ganz nett, aber für das eigentliche Wirken des Todes sollte man es mit genau so einem zerrissenen, zerstochenen Foto versuchen: Das sieht persönlich aus und zugleich unmittelbar und endgültig zerstörerisch; da wird das Licht aus dem Auge gerissen und das Leben von der Wange.
    Systematische Nachforschungen zum Kriegsdienst meines Großvaters werden anfangs dadurch erschwert, dass ich weder sein Regiment kenne noch weiß, wann er eingezogen wurde. Zuerst treffe ich auf einen Scoltock, der Schachtelmacher war und aufgrund eines medizinischen Gutachtens als dienstuntauglich entlassen wurde, in dem schlicht und einfach steht: »Idiot.« (Ach, hätte man doch einen amtlich anerkannten Idioten in der Familie!) Dann aber kommt Private Bert Scoltock vom 17 th Battalion, Lancashire Fusiliers, der am 20 . November 1915 eingezogen wurde und sich dann zwei Monate später mit der 104 th Infantry Brigade, 35 th Division nach Frankreich einschifft.
    Mein Bruder und ich sind überrascht, dass Grandpa so spät eingerückt ist. Ich hatte immer geglaubt, er habe die Uniform just zu der Zeit angezogen, als Grandma schwanger wurde. Aber das ist wohl eine Rückprojektion aus dem Leben unserer Eltern: Mein Vater rückte 1942 ein und wurde nach Indien geschickt, als meine Mutter mit dem Kind schwanger war, das dann mein Bruder wurde. Hat Grandpa sich nicht vor dem November 1915 gemeldet, weil seine Tochter zur Welt kam? Damals war er, wie die Widmung auf seiner Taschenuhr bestätigt, Rektor einer Schule der Kirche von England und wurde deshalb vielleicht vom Militärdienst zurückgestellt. Oder gab es so eine Kategorie noch gar nicht, da doch die allgemeine Wehrpflicht erst im Januar 1916 eingeführt wurde? Vielleicht sah er das voraus und meldete sich lieber freiwillig. Falls Grandma damals schon Sozialistin war, wollte er womöglich beweisen, dass er trotz seiner politisch verdächtigen Ehefrau ein Patriot war. Hatte ihn eine dieser hochnäsigen Frauen auf der Straße angesprochen und ihm eine weiße Feder überreicht? War ein guter Freund von ihm in die Armee eingetreten? Fürchtete er sich wie so viele frischgebackene Ehemänner vor dem Verlust der persönlichen Freiheit? Sind das alles absurde Fantastereien? Vielleicht ist es überhaupt falsch, seine Bemerkung über die Reue auf den Ersten Weltkrieg zurückzuführen, da sie nie mit einem Datum verbunden war. Ich habe meine Mutter einmal gefragt, warum Grandpa nie über den Krieg sprach. Ihre Antwort: »Ich glaube, er fand das nicht so interessant.«
    Grandpas Personalakte wurde (wie die vieler anderer) im Zweiten Weltkrieg zerstört. Aus dem Brigadetagebuch geht hervor, dass die Brigade Ende Januar 1916 an der Westfront eintraf; es regnete stark; Kitchener inspizierte die Einheit am 11 . Februar 1916 . Im Juli kamen sie endlich zum Einsatz (Verluste vom 19 .– 27 .: 8 Offiziere verwundet, andere Ränge 34 Gefallene, 172 Verwundete). Im Monat darauf war die Brigade in Vaux, Montagne und an der Front von Montauban; Grandpa lag wahrscheinlich im Dublin Trench, wo sich die Brigade beschwerte, sie werde von der eigenen, schlecht zielenden Artillerie beschossen; später dann im Chimpanzee Trench am Südende von Angle Wood. Im September und Oktober waren sie wieder an der Front ( 4 . Sept. – 31 . Okt. Verluste andere Ränge: 1 Toter, 1 4 Verwundete – 3 durch Unfall, 3 im Dienst, 4 Gewehrgranate, 2 Bomben, 1 Lufttorpedo, 1 Kugel). Als Brigadekommandeur wird ein gewisser »Captain, Brigade Major B. L. Montgomery (später Alamein)« aufgeführt.
    Montgomery von El Alamein! Der, den wir immer im Zwergenschrank sahen – »der grässliche kleine Monty, der in Schwarz-Weiß herumtänzelt«, wie mein Bruder sich ausdrückte –, wo er schilderte, wie er den Zweiten Weltkrieg gewonnen hatte. Mein Bruder und ich äfften immer nach, dass er kein R aussprechen konnte. »Dann vewsetzte ich Wommel einen wechten
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