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Reise zu Lena

Reise zu Lena

Titel: Reise zu Lena
Autoren: Alfred Neven DuMont
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I.
    Der alte Mann schlägt die Augen auf, noch benommen vom Schlaf sucht er nach einem Lichtstrahl, einem Schimmer nur. Aber die Nacht hat nichts von ihrer tiefen Dunkelheit verloren, wacht eifersüchtig über ihre Finsternis. Und wie er aus der letzten und vorletzten Nacht und den Nächten davor weiß, wird sie noch lange andauern, sich endlos dehnen. Viel zu früh hat ihn der erlösende Schlaf verlassen, zurückgestoßen in die Einsamkeit. Gleich werden ihn wieder die bohrenden Gedanken überfallen, wie Fledermäuse, so lautlos, mit untrügerischem Instinkt, ihr Ziel auf dem schnellsten Weg zu erreichen, mit mächtigen, weit ausholenden Schwingen, den winzigen Kopf mit den aufgerissenen Augen nach vorne gestreckt, immer wieder derselbe stechende Schmerz: Warum ist sie fort? Bin ich es, ist es meine Schuld?
    Dann ist sie wieder bei ihm, er erkennt mit pochendem Herzen ihr helles Lachen, es schallt in die Höhe, unterbrochen von Gezwitscher und Gurren, wie es nur sie vermag. Wenn sie lacht, denkt er glücklich, ist sie glücklich, die Tiefe ihrer Traurigkeit hat sie freigegeben, sie ist aus diesem tintenschwarzen Meer freigegeben nach all den Wochen, und jetzt verkündet sie jubelnd ihre Freiheit. So hell, so engelsgleich kann nur jemand lachen, der das Schwarz grenzenloser Verlorenheit kennt, die tiefen Gräben des endlosen Falls ins Nichts, in den Abgrund, der am Ende lauert, von dem es keine Umkehr gibt. Tränen rinnen über seine faltigen Wangen, die Augen verschwimmen, er vermag nicht zu sprechen. Er hört ein unbestimmtes Geräusch in der Ferne, seine Lippen zittern. Lang will er die Erscheinung nicht loslassen, klammert sich an sie, will das verlorene Glück nicht mehr hergeben, wo sie doch schon längst verschwunden ist. Und er weiß, dass er noch einmal eingeschlafen und in seiner Bitternis belohnt worden ist und wenn auch nur für kurze Zeit. Zeit, diese ungreifbare, unbegreifliche Masse.
    Beugt sich Ann über ihn? Ihr Gesicht scheint nah. Er glaubt ihren Atem zu hören. Ihre Augen schauen ihn durch die Dunkelheit an. Beobachtend, fragend, suchend. Sie sagt nichts, er sagt nichts. Er denkt, dass Schweigen länger als der Tod währen kann. Er legt den Kopf zur Seite auf das feuchte Kissen und denkt an Glorie, seine geliebte Tochter, wie sie soeben sein Herz zum Springen brachte, mitten in der Nacht.
    Der alte Mann setzt sich auf. Schweiß steht auf seiner Stirn, er zittert vor Kälte, seine Pyjamajacke klebt an seiner Haut. Regnet es draußen, war da nicht ein Geräusch? Nein, es ist nichts. Er schiebt die Beine beiseite, setzt die nackten Sohlen auf den Fußboden, der Schmerz in seinen Füßen, der ihm längst Gewohnheit ist. Er braucht keine Hilfe. Immer dieses Gezerre und Geschiebe nach vorne, nach hinten, zur Seite, ihre kalten Hände an seinen Schultern, an den Armen, im Rücken. Ist er ein Baby? Weiß Gott nicht. Nur ein alter Mann. Er denkt: Was habe ich getan, dass ich nicht mehr weiß wohin? Ab welchem Moment habe ich meinen Weg verloren, wann war es, dass alles in mir mit endlosen Fragen und Kummer, sinnlosem Gestammel beladen wurde? Warum kennt dieser unfassbare Gott keine Gnade? Warum wird von ihm Verständnis, Mitgefühl, Nachsicht und Mitleid eingefordert, wo Er selbst sich solchen Hoffnungen so gänzlich verschließt, ja, seine Demut, die er sich tagtäglich abringt, nicht zur Kenntnis nimmt, geschweige denn belohnt? Was ist das für ein Gott, der ihn zum Knecht, zu seinem Sklaven macht? Er, sein Herr, sein ferner Master, der niemand und keinem Rechenschaft schuldig ist? Hat Er nicht schon sein Gelächter gehört in der Nacht? Er, der die Unschuldigen, die Aufrichtigen, die Frommen bestraft und die dunklen Gestalten, die mit Schuld beladen sind, die Drohnen, die Schmeichler, die Gefälligen, die heimlichen Diebe und die scheinheiligen Mörder davonkommen lässt? Ja, sie geradezu auszeichnet, ehrt, sie oben an der Tafel Ihm zur Seite Platz nehmen lässt.
    Der alte Mann ging neben Ann durch den Garten. Er hörte ihre Stimme von Ferne, wie so oft:
    »Hast Du Deine Medikamente rechtzeitig genommen?«
    Seine Schritte waren heute sehr zögerlich, er kam nur schwer voran, tapste von einer Seite zur anderen, blieb stehen, dann eilte er hinter ihr her. Merkwürdig, dachte er, mein Garten wächst, oder werde ich kleiner? Ich glaube schon.
    »Hast Du etwas gesagt?«, fragte Ann in scharfem Ton.
    »Ja, Liebes, ich glaube, der Garten wächst mit jedem Tag, er wird größer.«
    »Nein, Du irrst, die Grenzen
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