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Der schwarze Prinz

Titel: Der schwarze Prinz
Autoren: Netty
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PROLOG
Kloster Fulda
     
    »Vaka! Vaka!«, schrie der Falke vor dem glaslosen Fenster der Klosterzelle, und Schwester Brünhilde, obwohl gerade eben noch in tiefstem und zu ihrer Freude traumlosem Schlaf, schlug sogleich die altersfaltigen Augen auf. Erwache! Erwache! So hastig ihre müden Knochen es zuließen, erhob sich die Äbtissin von ihrem kargen Lager und schlüpfte in ihr schwarz-weißes Gewand. Der Falke hatte sie noch nie geweckt - dass er es jetzt mitten in der Nacht tat, konnte nur eines bedeuten, und sie wusste, dass sie keine Zeit zu verlieren hatte. Und das nach all den Jahrhunderten. Ich hoffte so sehr, es sei inzwischen längst vergessen , dachte sie, obwohl sie überhaupt nur hier war, weil sie wusste und schon immer gewusst hatte, dass es nie wirklich vergessen sein würde. Sie schob den jetzt unnützen Gedanken beiseite, um sich auf die vor ihr liegende Aufgabe zu konzentrieren, trat an die große hölzerne Truhe an der unverputzten Wand - außer dem Bett, einem kleinen Tisch und einem Stuhl das einzige Möbel in der winzigen Kammer - und öffnete sie. Darin lag auf einem Stapel alter Schriftrollen aus Pergament ein schmuckloser Rosenkranz aus Holz. Statt eines Kreuzes hing daran der Hammer des Thor. Sie nahm ihn an sich, befestigte ihn an ihrem Gürtel und hob dann die Pergamentrollen heraus, um sie achtlos zu Boden fallen zu lassen. Schwester Brünhilde war im Moment einzig an dem interessiert, was sich darunter befand: eine zweite Kiste - ebenso lang wie die große, in der sie steckte, aber wesentlich schmaler. Sie holte einen altertümlichen Schlüssel aus ihrem Gewand und öffnete das ebenso altertümliche Schloss, um anschließend mit vor Aufregung zittrigen Fingern den Deckel aufzuklappen. Eine etwa anderthalb Arm lange Rolle aus geöltem Segeltuch kam zum Vorschein. Mitsamt dem, was darin eingewickelt war, nahm sie sie heraus und machte sich dann eilig auf den Weg aus ihrer Zelle. Die Nacht war kühl und Idar. Der Mond blutrot ... kein gutes Zeichen. Stille lag über dem Gelände des Klosters. Nicht einmal die Schritte Schwester Brünhildes, mit denen sie durch die verlassenen Gänge und die Treppen des Dormitoriums nach unten eilte, machten ein Geräusch. Auch die schwere, eisenbeschlagene Holztür hinaus zum Hof knarrte und quietschte nicht, wie sie es sonst stets und zuverlässig tat, solange die Äbtissin sich erinnern konnte ... und das war lange ... im wahrsten Sinne des Wortes verdammt lange. So unheilig sich diese Stille anfühlte, so unnatürlich war sie, und Schwester Brünhilde wusste: Wer immer gekommen war, sich zu holen, was zu beschützen ihr Schicksal ihr vorgab, stammte nicht von dieser Welt. Doch das war nicht weiter verwunderlich - wenige auf oder von dieser Welt wussten überhaupt davon ... ganz zu schweigen von seiner unglaublichen Macht.
    Schwester Brünhilde überquerte den Hof und betrat eine kleine Kopfsteinpflastergasse, die auf den Berg am Dom mit der Bonifatiusgruft vorüber hin zur Michaeliskirche führte. Außenstehende vermuteten selbstverständlich, in dem wesentlich prachtvolleren Dombau sei mit den Reliquien des Heiligen Bonifatius das wertvollere Heiligtum untergebracht als in der schmucklosen Basilika. Sie irrten. Schwester Brünhilde schaute sich vorsichtig um. Ihre rechte Hand hatte angefangen zu zittern, und sie spürte das Verlangen, in die Tuchrolle zu greifen. Nur zur Sicherheit , wollte sie sich vormachen, aber sie wusste, dass es mehr war als das: Sie vermisste die Berührung, wie der Süchtige seinen Stoff. Aber jetzt hatte sie so lange widerstanden ... so entsetzlich lange ... und wenn sie sich irrte und zu früh handelte, wären all die Jahre des Darbens umsonst. Die Jahre des Leids, des niemals endenden Kampfes gegen sich selbst, des Erfolgs gegen jeden Instinkt in ihr, der Versuchung immer und immer wieder widerstanden zu haben. Durch das Segeltuch hindurch konnte sie das leise, schlummernde Singen hören ... den sirenenhaften Klang, der lockte und verführte.
    Zu früh! Viel zu früh! Ich muss erst sicher sein! Vollkommen sicher!
    Immer deutlicher spürte sie in ihrer Brust die fremde Präsenz, so als würde sie mit jedem weiteren Schritt tiefer in die Sphäre des Eindringlings hineingehen. Die Aura war mächtig ... mächtiger als alles, was Schwester Brünhilde in einer sehr langen Vergangenheit gespürt hatte ... mächtiger sogar noch als die Alberichs.
    Wer zur Hölle ist das?
    Es gab nicht viele Wesen in den Neun Welten, die den König
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