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Der schwarze Prinz

Titel: Der schwarze Prinz
Autoren: Netty
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sie ihre Position verraten und machte sich auf einen Angriff gefasst - aber der Eindringling ignorierte sie. So als sei sie gar nicht da. Da griff Schwester Brünhilde in eine Tasche ihres Gewandes und holte daraus etwas hervor: Es war Staub aus reinem Eisen. Sie trat nach vorne, nun vollends ihre Deckung aufgebend, warf ihn dort in die Luft, wo die Schlieren am deutlichsten zu erkennen waren, und hielt ihre freie Hand schützend vor die Augen.
    Jedes einzelne der winzigen Eisenkörnchen explodierte, als der Staub die Gestalt erreichte, wie in einem winzigen, aber gleißend hellen Feuerwerk. Doch anders als von Schwester Brünhilde gehofft, wurde das Unsichtbare dadurch nicht sichtbar - und ignorierte sie einfach weiter, während es fortfuhr, die Irminsul zu untersuchen. Denn genau das war es, was es tat ... wie die Äbtissin befürchtet hatte. Er oder sie wusste, was darin verborgen war.
    Schwester Brünhilde stellte sich fest auf beide Füße, holte tief Luft und intonierte mit kräftiger Stimme:
     
    »In Nafn Mekt gefan mifra Nornir
    Vardha Yggdrasil Fjandmadhir Lif
    Ordo dhik tega!«
     
    Im Namen der Macht, die mir von den Nomen gegeben,
    Die Yggdrasil gegen die Feinde des Lebens zu bewachen,
    Befehle ich, dich zu zeigen!
     
    Durch die Schlieren nur wenige Meter von ihr entfernt lief ein Zucken, so als seien sie von einem kräftigen Windstoß getroffen worden ... und ganz allmählich nahm das Wesen sichtbare Gestalt an. Doch noch ehe Schwester Brünhilde erkennen konnte, wer es war, hörte sie eine weibliche Stimme sagen: »Feinde des Lebens? Wie treffend, Teuerste. Ja, das bin ich wohl. Aber dies ist nicht Yggdrasil, ist nicht die Welteneibe. Nur ein krudes Abbild von ihr. Toter Stein. Und es ist auch nicht der Stein, den du bewachst, Brynhildr, kleine Schildmaid. Du bewachst, was in dem Stein verborgen ist.«
    Noch ehe die Gestalt ihre endgültige Form annahm, hatte Schwester Brünhilde erkannt, wer da vor ihr stand ... und dass es ein Fehler gewesen war, so lange zu warten, ihr eigenes, wahres Gesicht zu zeigen ... ein fataler Fehler!
    Sie griff in das Innere des Segeltuchs ... berührte den Griff des darin eingewickelten Schwertes und die Spange des Gürtels, der darum geschlungen war ... spürte, wie der Kontakt sie mit längst vergessener Kraft erfüllte und die Verwandlung auslöste ... die Verwandlung in ihr früheres, ihr eigentliches Selbst ... fühlte, wie sie wuchs ... wie sie jünger wurde ... wie ihre schwarz-weiße Nonnentracht sich in ihre Rüstung verwandelte. Ein so lange vergessenes Gefühl - ihr Herz wollte bersten vor Freude ... obwohl sie wusste, dass sie den Kampf, der vor ihr lag, nicht gewinnen würde ... bei all der Macht, die sie selbst in sich trug, gar nicht gewinnen konnte. Aber wenigstens konnte sie nach all den Jahrhunderten noch einmal ihre wahre, so lange vermisste Gestalt annehmen ... und wenn es nur war, um jetzt gleich in ihr zu sterben.
    Eine Träne des Glücks floss ihr aus dem Auge auf die nun wieder junge und glatte Wange ... und auch jetzt empfand sie keine Angst ... denn der Ausgang des Duells war sicher ... daran gab es gar keinen Zweifel... doch es würde ebenso sicher der größte Kampf werden, den Brynhildr, die Walküre, jemals gefochten hatte.
    Es war nicht von Bedeutung, dass niemand hiervon singen würde ... das einzige Lied, das ihr jetzt noch etwas bedeutete, war der Gesang ihres eigenen Schwertes...

TEIL 1
     

     
DIE SCHWERTER DES
SCHICKSALS
     

1
Dresden
     
    Das Monster vom Alberthafen war auf der Jagd.
    Der Mannwolf kauerte tief in den dunklen und kalten Schatten der Nacht auf der rostigen Feuertreppe der lange verlassenen Lagerhausruine und verfolgte das einsame Mädchen auf der nebligen Straße unter ihm mit vor Gier glühenden Augen und vorfreudig bebenden Lefzen.
    Sie würde leichte Beute sein - wie all die anderen vor ihr.
    Noch einige Kilometer weit entferntes Donnergrollen kündigte einen Sturm an. Ein Spinnennetz aus Blitzen zuckte durch die schwarzen Wolken, lud die Luft mit elektrischer Spannung auf und tauchte das graue Fell der Bestie in flüssig glänzendes Silber.
    Das Mädchen hatte die Kapuze ihres abgenutzten roten Regenmantels gegen den Wind und den ersten Nieselregen tief ins Gesicht gezogen. Der Mannwolf sah ihr lauernd dabei zu, wie sie ein altes Fahrrad, von dem die Kette abgesprungen war, mühsam vor sich herschob ... durch die blassen Kegel der wenigen hier noch funktionierenden Straßenlaternen, vorbei an übervollen
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