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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
Autoren: Zülfü Livaneli
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    An Deck eines Schiffes,  
    das nach Osten fährt,  
    laufen wir in Richtung Westen.  
     
    Celal Yalınız  
     
     
    A   m Bosporus sieht man, wie Vögel in Schwärmen pfeilschnell übers Wasser sausen und es dabei fast berühren. Es sind Sturmtaucher. Nach einer alten Sage trägt jeder von ihnen die Seele eines Menschen mit sich, der hier einst lebte und starb. So fliegen sie zwischen Europa und Asien hin und her und erquicken dabei die Seelen von Megarern, Genuesen, Byzantinern und Osmanen.
    Den Bosporus durchquerte auch Io, die Geliebte des Zeus, nachdem die eifersüchtige Hera sie in eine Kuh verwandelt hatte.
    Wenn ich morgens aufwache, sehe ich auf das Wunder dieser Meerenge hinunter und empfinde jedes Mal den gleichen schwindelerregenden Zauber. Die Sturmtaucher fliegen dahin, und riesige russische Schlepper ziehen wie abgedunkelte Leuchttürme vorbei. Manchmal treibt einer, von der tückischen Strömung erfasst, auf eines der Häuser am Ufer zu, und es geschieht immer wieder einmal, dass ein Haus von solch einem Ungetüm zermalmt wird und Menschen in der surrealen Szenerie eines in ihr Schlafzimmer dringenden Schiffes umkommen.
    Von kleinen Fischerbooten aus werden die schmackhaften Bosporusfische gefangen, die man einst in Rom bei kaiserlichen Festmahlen verzehrte. Sonntags sind Jachten und elegante Segelboote unterwegs.
    Diesen unvergleichlichen Anblick genoss ich eines Abends im Sommer 2010 bei herrlichem Fisch und eiskaltem Raki mit zwei lieben Menschen, meinem engsten Freund Yaşar Kemal und unserem Gast Günter Grass.
    In den Wassern des Bosporus zu unseren Füßen spiegelten sich zauberhaft osmanische Paläste, Moscheen, Schiffe sowie die beide Kontinente überspannenden Brücken.
    Ich war gerade erst von einem Konzert auf Zypern zurückgekehrt und gab daher an Yaşar Kemal eine Frage weiter, die man mir dort gestellt hatte. Die Leute wunderten sich, warum er nie nach Zypern käme. Etwa, weil dort ein mit ihm befreundeter Gewerkschafter ermordet worden war?
    »Stimmt, vor Jahren ist auf Zypern ein Freund von mir umgebracht worden, und deshalb will ich da nicht mehr hin«, sagte Yaşar Kemal.
    »Nun ja«, erwiderte ich, »aber in Istanbul sind doch auch Freunde von uns ermordet worden, dann dürften wir auch hier nicht leben.«
    Bevor Yaşar Kemal eine Antwort geben konnte, hob Günter Grass sein Rakı-Glas und rief aus:
    »Wenn man schon umgebracht wird, dann sollte es wenigstens in Istanbul sein!«
    Während wir über diesen makabren Scherz lachten, fiel mir ein Radiointerview ein, das einmal ein holländischer Journalist mit mir geführt hatte. Der Mann wusste, dass ich mehrere Putsche miterlebt, im Militärgefängnis gesessen und elf Jahre im Exil verbracht hatte, und so fragte er mich nach meiner bittersten Erfahrung. Ohne Zögern antwortete ich:
    »Am bittersten war, wenn Freunde von mir getötet wurden.«
    Der Journalist meinte zunächst, er habe sich verhört, und fragte nach: »Freunde? Im Plural?«
    »Ja, beileibe nicht nur einer.«
    »Wie viele waren es denn?«
    »Die genaue Zahl weiß ich nicht, aber es dürften um die zwanzig, dreißig gewesen sein.«
    Im Hörer war es eine Weile ganz still.
    Schließlich fragte mich der Holländer: »Haben Sie dennoch keine Angst, dort zu leben?«
    Ich erwiderte ihm, dass Angst nun mal zum Leben eines türkischen Intellektuellen gehöre. So wie das Gefängnis ganz selbstverständlich als die Schule der türkischen Schriftsteller bezeichnet werde, so müsse man auch ständig damit rechnen, dass einem ein Wirrkopf einen Pistolenlauf an den Kopf halte.
    Das jüngste Beispiel dafür war die Ermordung unseres geliebten Freundes, des armenischstämmigen Journalisten Hrant Dink.
    Nach dem Interview machte ich mich mit meiner Frau daran, die Ermordeten aus unserem Freundes- und Bekanntenkreis aufzulisten. Als wir bei fünfzig angelangt waren, mussten wir innehalten, beide in Tränen aufgelöst.
    Die Türkei ist ein Land, in dem sich der Kalte Krieg verheerend ausgewirkt hat. Als Nato-Mitglied und enger Verbündeter der USA war die Türkei gegenüber dem Nachbarn Sowjetunion ein vorgeschobener Posten. Von den amerikanischen Militärstützpunkten auf türkischem Boden konnten jederzeit Atomraketen abgefeuert werden, und auf Flughäfen, die von Türken nicht betreten werden durften, standen mit Atombomben bestückte Düsenjäger zum Abheben bereit.
    Linksgesinnte kreative Menschen, die sich mit Literatur und Kunst befassten, galten als potentielle Gefahr
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