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Hebamme von Sylt

Hebamme von Sylt

Titel: Hebamme von Sylt
Autoren: G Pauly
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PROLOG
    Es war das Jahr 1872, als sich Geesche Jensens Leben grundlegend veränderte. Ein kalter Sommer, der noch nicht viele heiße Tage gehabt hatte! Das Unwetter, das über die Insel fuhr, war nicht das erste dieses Sommers, aber das schlimmste. Der Sturm jagte die Wellen gegen den Strand, das Tosen der Brandung war auf der ganzen Insel zu hören. Viele Klänge hatte er, dieser Wind, er heulte in den Fenstern und Türen, pfiff im Reet der Dächer und fuhr mit dem Schrei einer Möwe nieder, als hätte der Sturm einen spitzen Schnabel und scharfe Krallen. Am schlimmsten aber war das Fauchen des Meeres, das ferne Grollen der Wellen, ihr Brüllen, wenn sie sich überschlugen, sich auf den Sand warfen und sich zischend zurückzogen, als wollten sie eine Warnung hinterlassen. Aus einem schwülen, drückenden Tag war dieser Sturm entstanden, einem Tag, an dem jeder auf ein reinigendes Gewitter gehofft hatte. Dass daraus ein solches Wüten, eine derartige Wucht, eine so kalte, vernichtende Kraft entstehen würde, hatte niemand erwartet. Auch die alten Seefahrer nicht, die sich mit allen Wetterlagen auskannten, die nur lange in den Himmel blicken mussten, um dann an den Wolkenbildungen, der Windrichtung und dem Verhalten der Möwen zu erkennen, was der Insel bevorstand. Sie alle hatten diesmal versagt.
    Geesche fragte sich, wie viele Fischer hinausgefahren sein mochten. Jens Boyken hatte sich aufgemacht, wie sie wusste. Gegen Mittag war sie an seinem Haus vorbeigekommen, da hatte er seine Netze vorbereitet und die Reusen zusammengelegt.
    »Willst du Freda wirklich allein lassen?«, hatte sie ihn gefragt.
    »Du hast gesagt, es kann noch eine Woche dauern, bis das Kind kommt«, hatte Jens in seiner mürrischen Art zurückgegeben. »Soll ich eine Woche auf den Fang verzichten? Und was, wenn es zwei Wochen werden?«
    Es konnte aber auch schon in der nächsten Nacht losgehen. Gerade in den Sturmnächten wurden viele Kinder geboren. Wenn sich in der Natur etwas veränderte, setzten die Wehen oft früher ein, wenn das Wetter umschlug, der Mond wechselte oder eine Gefahr näher kam. Freda würde Angst vor dem Alleinsein haben, vor allem wenn Ebbo den Vater begleitet hatte. Ob Geesche zu ihr gehen sollte, um nach ihr zu sehen?
    Nachdenklich ging sie zum Fenster der Küche und blickte hinaus. Die Nacht war schwarz, kein Stern zu sehen, der Mond lag hinter den Wolken verborgen. Sie jagten vermutlich über den Himmel, aber so dicht waren sie, dass sie kein Licht hindurch ließen. So war der Sturm nur zu hören, nicht zu sehen.
    Wo mochte Andrees sein? Hoffentlich war er nicht von seinem Vater gebeten worden, mit hinauszufahren. Andrees ließ sich gerne bitten, das wusste Geesche. Eigentlich war er immer noch Fischer mit Leib und Seele, hatte nie etwas anderes sein wollen. Dass er nun dabei half, die Trasse zu bauen, auf der irgendwann einmal eine Inselbahn fahren sollte, war sein größtes Unglück. Doch ein Fischerboot ernährte nur eine Familie, und selbst das nur mit Müh und Not.
    »Soll ich warten, bis mein Vater zu alt und zu schwach ist, um die Netze zu heben? Warten, dass er mir sein Boot überlässt?«, hatte er sie oft gefragt.
    Dass dieser Tag kommen würde, war zwar eine kleine Hoffnung, aber keine wirkliche Perspektive. Und dem Vater ein Ende des Fischfangs zu wünschen, das war sogar eine Sünde. Nein, Andrees brauchte dringend ein eigenes Boot, um als Fischer sein Auskommen zu haben. Die Arbeit an der Trasseder Inselbahn machte einen anderen Menschen aus ihm. Jeden Tag ein bisschen mehr. Morgen würde er wieder ein wenig unglücklicher sein als gestern und übermorgen erneut davon reden, dass das Leben keinen Sinn hatte, wenn er nicht täglich auf das Meer hinauskonnte. Und erst recht nicht, wenn er sein Geld mit etwas so Sinnlosem verdiente wie der Idee, dass irgendwann eine Eisenbahn über die Insel fahren und Sommerfrischler vom Hafen Munkmarsch nach Westerland bringen sollte. Niemand glaubte an die ehrgeizigen Pläne von Dr. Julius Pollacsek, der aus Westerland ein blühendes Seebad machen wollte. So hatte der selbst ernannte Kurdirektor auch nur wenig Unterstützung auf Sylt gefunden. Kaum jemand war bereit, ihm dabei zu helfen, die Voraussetzungen für die Inselbahn zu schaffen, die Dr. Pollacsek sogar selbst finanzieren wollte. Lediglich einen Haufen junger Männer gab es, die froh über jede Beschäftigung waren. Sogar einige Strandräuber waren darunter, die jede Gelegenheit nutzten, um zu Geld zu
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