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Falken: Roman (German Edition)

Falken: Roman (German Edition)

Titel: Falken: Roman (German Edition)
Autoren: Hilary Mantel
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I
    Falken
    Wiltshire, September 1535
    Seine Kinder fallen vom Himmel. Er sieht vom Pferd aus zu, hinter ihm dehnen sich die Weiten Englands. Sie fallen, goldflügelig, mit blutunterlaufenem Blick. Grace Cromwell schwebt in dünner Luft. Lautlos fängt sie ihre Beute, lautlos landet sie auf seiner Hand. Die Geräusche, die sie dann macht, das Rascheln des Gefieders, das Seufzen und das Ordnen der Schwingen, das leise Glucken aus der Kehle, sind Geräusche des Wiedererkennens, vertraut, töchterlich, fast missbilligend. Ihre Brust ist blutbefleckt, und an ihren Klauen hängt Fleisch.
    Später wird Henry sagen: »Deine Mädchen waren heute gut unterwegs.« Der Greifvogel Anne Cromwell wippt auf dem Handschuh von Rafe Sadler, der sich neben dem König in leichter Konversation übt. Sie sind müde, die Sonne sinkt in Richtung Horizont, und sie reiten zurück nach Wolf Hall, die Zügel locker auf den Hälsen ihrer Rösser. Morgen werden seine Frau und zwei Schwestern aufsteigen. Die toten Frauen, deren Knochen lange schon in Londons Erde ruhen, werden wiedergeboren. Schwerelos gleiten sie durch die höheren Luftströmungen. Sie haben kein Mitleid. Sie sind niemandem verantwortlich. Ihr Leben ist einfach. Wenn sie nach unten blicken, sehen sie nichts als ihre Beute und die geborgten Federn der Jäger: Sie sehen ein flatterndes, zuckendes Universum, ein Universum gefüllt mit Beute.
    Der ganze Sommer war so, ein fortwährendes Reißen, mit auffliegenden Fellfetzen und Federbüscheln, dem Zurückrufen und Antreiben von Hunden, dem Hätscheln müder Pferde, dem Pflegen – durch die Gentlemen selbst – von Prellungen, Verrenkungen und Blasen. Und wenigstens ein paar Tage lang schien die Sonne auf Henry. Manchmal jagten vor Mittag Wolken aus dem Westen heran, und große, duftende Regentropfen fielen, aber die Sonne kam mit sengender Hitze zurück, und jetzt ist es so klar, dass man bis hinauf in den Himmel sehen und die Heiligen ausspionieren kann.
    Als sie absitzen, die Pferde den Stallburschen übergeben und auf den König warten, sind seine Gedanken bereits bei der Arbeit: bei den von einem Kurier über die Postwege beförderten Depeschen aus Whitehall, die dem Hof folgen, wohin immer er zieht. Beim Abendessen mit den Seymours wird er sich allen Geschichten fügen, die seine Gastgeber zu erzählen wünschen, allem, was der König unternehmen mag, so zerzaust, glücklich und gut gelaunt, wie er heute Abend scheint. Wenn der König zu Bett geht, beginnt seine Arbeitsnacht.
    Obwohl der Tag vorüber ist, scheint Henry nicht geneigt, nach drinnen zu gehen. Er lässt den Blick schweifen, atmet Pferdeschweiß ein, auf der Stirn einen breiten, ziegelroten Streifen Sonnenbrand. Am Morgen hat er den Hut verloren, und so musste auch der Rest der Jagdgesellschaft – so ist es nun mal – die Hüte abnehmen. Der König ließ sich keinen Ersatz anbieten. Während sich die Dämmerung über Felder und Wälder stiehlt, sucht die Dienerschaft nach einer Bewegung der schwarzen Feder im dunkler werdenden Gras, dem Auffunkeln seiner Jagdplakette, einem goldenen heiligen Hubertus mit saphirnen Augen.
    Schon ist der Herbst zu spüren. Es wird nicht mehr viele Tage wie diesen geben, also lasst uns noch eine Weile dastehen, umringt von den Stallknechten Wolf Halls, und zusehen, wie sich Wiltshire und die westlichen Counties in den blauen Dunst recken; lasst uns dastehen, die Hand des Königs auf seiner, Cromwells, Schulter, das Gesicht Henrys ernst, während er sich durch die Landschaft des Tages erzählt, durch grünes Gehölz und rauschende Bäche, die Erlen am Ufer, den Morgennebel, der sich gegen neun Uhr hob, den kurzen Schauer, den leichten Wind, der sich legte und erstarb, die Ruhe, die Hitze des Nachmittags.
    »Sir, wie kommt es, dass Sie keinen Sonnenbrand haben?«, fragt Rafe Sadler, der, rothaarig wie der König, in einem sommersprossigen Rosa glüht. Selbst seine Augen scheinen wund. Er, Thomas Cromwell, zuckt mit den Achseln und legt Rafe einen Arm um die Schulter, als sie sich langsam nach drinnen bewegen. Er hat es durch ganz Italien geschafft, das offene Schlachtfeld wie die verschattete Arena des Kontors, ohne seine Londoner Blässe zu verlieren. Seine grobe Kindheit, die Tage auf dem Fluss, die Tage auf den Feldern: Sie haben ihn so weiß gelassen, wie Gott ihn erschaffen hat. »Cromwell hat die Haut einer Lilie«, verkündet der König. »Das ist auch das Einzige, in dem er ihr oder einer anderen Blüte gleicht.« Ihn so
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