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Vyleta, Dan

Vyleta, Dan

Titel: Vyleta, Dan
Autoren: Pavel und Ich
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Dan Vyleta
     
    PAVEL & ICH
     
    Roman
     
    Aus dem Englischen von Werner
Löcher-Lawrence
     
    Die
Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel Pavel
& I
     
    Für Chantal und für Rick. Ihr habt mich
zuerst gelesen.
     
    »Ich beobachtete die Sitten des
Faubourg, seine Besucher und Charaktere. [...] Bei mir war die Beobachtung
schon intuitiv geworden; sie drang in die Seele, ohne den Körper zu
vernachlässigen; oder sie erfasste vielmehr die Einzelheiten des Äußeren so
leicht, dass sie sofort darüber hinausging; sie lieh mir die Gabe, das Leben
des Menschen, für den ich mich interessierte, mitzuleben; ich konnte mich an
seine Stelle setzen, wie der Derwisch in Tausendundeiner Nacht Körper und Seele
der Personen annahm, über die er gewisse Worte sprach.«
    Honore de
Balzac, Facino Carte
     
    »Es ist ein auffälliger und
allgemein bemerkter Zug im Verhalten der Paranoiker, dass sie den kleinen,
sonst von uns vernachlässigten Details im Benehmen der anderen die größte
Bedeutung beilegen, dieselben ausdeuten und zur Grundlage weitgehender Schlüsse
machen.«
    Sigmund Freud, Zur
Psychopathologie des Alltagslebens
     
     
    Erster Teil
     
    Der Zwerg
     
    18. Dezember 1946
     
    D er Junge
war damals ständig bei ihm. Immer wieder musste er ihn aus dem Zimmer
scheuchen, nur um ihn nach wenigen Augenblicken wieder auftauchen zu sehen,
die schiefen Zähne in die Lippe verbissen und unruhig. Sie redeten nicht. Der
Junge versuchte es ab und zu, auf Deutsch oder mit seinem Englisch voller
tiefer Vokale, aber Pavel antwortete immer nur mit Gesten, bis auch der Junge
sich auf die Zeichensprache verlegte und sein Gesicht darin übte, seine
Absicht preiszugeben. Es war während dieser Zeit, dass der Schmerz in Pavels
Nieren am schlimmsten wurde. Wie Steine steckten sie in ihm und drückten kalt
gegen die Haut. Bäuchlings auf dem Bett liegend, ertastete er behutsam ihre
Umrisse. Etwa jede halbe Stunde trieben sie ihn hoch, seine Nieren, hinüber in
die Ecke und zwangen ihn vor dem blutbefleckten Rand seines Nachttopfs in die
Knie. Erst hatte er Bedenken gehabt, sich vor dem Kind zu entblößen, und
versucht, seine Nacktheit mit der Hand zu verbergen. Mittlerweile machte es
ihm nichts mehr aus, und er war sogar dankbar, wenn der Junge kam und über ihm
stand, ihm eine Hand auf die Schulter legte und zusah, wie er ein paar
blassrote Tropfen aus seinem Glied quetschte. Hinterher half er ihm auf, half
ihm, die steifen Knie zu strecken. Wieder und wieder musste er sie auf dem harten
Holzboden geschmeidig laufen. Dabei sah er sein Bild im Spiegel, die hohlen
Wangen, den schmutzigen Mantel und die tief in die Stirn gezogene Wollmütze,
und er schämte sich vor seinem Antlitz. Hinter ihm warf der Junge mit den schiefen
Zähnen einen Blick zu ihm herüber und kratzte mit den dreckigen Nägeln seinen
Namen in das eisbedeckte Fenster, immer nur seinen Namen: Anders.
    Die Nacht
war stumm und ohne jeden Hinweis darauf, wie spät es war. Er hatte keine Uhr,
schon seit langer Zeit besaß er keine Uhr mehr. Seine Nieren waren seine
einzigen Zeitanzeiger, sie und der Frost, der sich in den Namen des Jungen
fraß und ihn verblassen ließ. Pavel sehnte sich nach einem Schnaps, hatte aber
keinen. Vielleicht würde er am Morgen den Jungen schicken, damit er ihm welchen
besorgte. Zigaretten hatte er natürlich, traute sich aber nicht, sie zu
rauchen. Zigaretten waren die letzte Währung, die es in der Stadt noch gab,
mit ihnen konnte er sich Kohlen kaufen, und sollte er danach suchen, auch
Gesellschaft, sechs Luckies für einen mitfühlenden Schoß und nicht einmal die
Hälfte für die Dienste eines deutschen Lippenpaars, aufgesprungen und ohne
Lippenstift, der mehr kostete als die Liebe. Ein- oder zweimal in dieser Nacht
beugte er sich vor, um ein Päckchen unter der Matratze hervorzuziehen, und sog
durch die verschiedenen Umhüllungen minutenlang den Tabakgeruch ein, den Blick
des Jungen auf sich, der die schiefen Zähne tief in seine Kinderlippe grub.
Dann zwangen ihn die Nieren ein weiteres Mal vor seinem blutverkrusteten
Götzenbild in die Knie, das Geschlecht gehalten von Fingern, die längst jedes
Gefühl verloren hatten. »Gott«, fluchte er einmal und meinte doch nichts damit.
Hinter ihm bewegte der Junge die Rechte in bewusster Provokation, berührte
Kinn, Bauch und beide Seiten der Brust mit ihr. »Amen«, sagte der Junge, es war
kaum ein Flüstern, und zum ersten Mal in all den Monaten ihrer Bekanntschaft
verspürte Pavel den
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