Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
Vom Netzwerk:
aufgenommenes Fortissimo der Begierde aus: »Bring me my arrows [ winzige Pause ] OF-DEE-SIRE .« Wusste ich, dass der Text von Blake stammte? Vermutlich nicht. Es gab auch keine Versuche, uns die Religion durch ihre sprachliche Schönheit nahezubringen (vielleicht, weil man diese für offenkundig hielt). Wir hatten einen älteren Lateinlehrer, der gern vom Text abschweifte; diese als persönliche Überlegungen getarnten Gedankengänge waren, wie mir jetzt klar ist, in Wirklichkeit eine genau berechnete Technik. Er gab sich wie ein pedantischer, nüchterner Geistlicher, doch dann murmelte er, als sei ihm das eben in den Sinn gekommen, so etwas wie: »Nun waren die Kinder Israel endlich ausgezogen – der längste Striptease aller Zeiten« – ein viel zu gewagter Witz, um ihn meinen Eltern wiederzuerzählen, die selbst Lehrer waren. Ein andermal machte er satirische Bemerkungen über ein Buch mit dem absurden Titel Die Bibel als Litera tur gelesen . Wir kicherten mit ihm, aber aus ganz anderen Gründen: Die Bibel (langweilig) war ganz offensichtlich nicht dazu da, als Literatur (spannend) gelesen zu werden, quod erat demonstrandum.
    Unter uns, die wir dem Namen nach Christen waren, gab es ein paar fromme Jungen, aber die galten als leicht verrückt, als ebenso seltene – und ebenso verrückte – Erscheinungen wie der Lehrer, der einen Ehering trug und zum Erröten gebracht werden konnte (auch er war fromm). Gegen Ende meiner Jugendzeit hatte ich einmal, womöglich auch zweimal, ein außerkörperliches Erlebnis: das Gefühl, oben an der Decke zu schweben und auf meinen leeren Körper herunter zu schauen. Das erzählte ich dem Schulfreund mit den Elastikeinsatz-Stiefeletten – nicht aber meiner Familie; und während ich darüber einen gelinden Stolz empfand (endlich passiert mal was!), leitete ich nichts Bedeutungsvolles, geschweige denn Religiöses daraus ab.
    Vielleicht war es Alex Brilliant, der uns Nietzsches Botschaft übermittelte, Gott sei offiziell tot, was hieß, dass wir alle fröhlich weiter onanieren konnten. Jeder hatte sein Leben selbst in der Hand, nicht wahr – das war doch der Kern des Existentialismus. Und unser schwungvoller Englischlehrer war sowieso gegen die Religion. Zumindest zitierte er uns den Spruch von Blake, der sich wie das Gegenteil von »Jerusalem« anhörte: »For Old Nobodaddy aloft / Farted & Belch’d & cough’d.« Gott furzte! Gott rülpste! Das war doch der Beweis, dass es ihn nicht gab! (Wieder kam es mir nie in den Sinn, diese menschlichen Züge als Beleg für die Existenz, ja für das verständnisvolle Wesen der Gottheit zu sehen.) Dieser Englischlehrer zitierte uns auch Eliots düstere Zusammenfassung eines Menschenlebens: Geburt, Koitus und Tod. Nach der Hälfte seiner natürlichen Lebenszeit brachte er sich dann um, wie Alex Brilliant – ein Selbstmordpakt mit seiner Frau mittels Tabletten und Alkohol.
    Ich ging zum Studium nach Oxford. Ich sollte mich beim College-Geistlichen melden, der mir mitteilte, als Stipendiat habe ich das Recht, im Gottesdienst den Bibeltext zu verlesen. Frisch von den Zwängen scheinheiliger Gottesverehrung befreit, antwortete ich: »Bedaure, ich bin glücklicher Atheist.« Daraufhin passierte gar nichts – kein Donnerschlag, kein Entzug der akademischen Robe, keine Schockstarre des Entsetzens; ich trank meinen Sherry aus und ging. Ein, zwei Tage später klopfte der Kapitän der Rudermannschaft bei mir an und fragte, ob ich mich für das College-Team bewerben wolle. Ich antwortete, vielleicht kühn geworden durch die Erfahrung, dass ich schon dem Geistlichen die Stirn geboten hatte: »Bedaure, ich bin Ästhet.« Jetzt möchte ich mich vor Scham über meine Antwort am liebsten in den Boden verkriechen (und wünschte, ich hätte doch gerudert); doch wiederum passierte nichts. Es fiel keine Bande von Sportsmännern bei mir ein, um das blaue Porzellan zu zerschlagen, das ich nicht besaß, oder meinen Bücherwurmkopf in die Kloschüssel zu drücken.
    Ich konnte meine Meinung sagen, traute mich aber nicht, sie auch zu vertreten. Hätte ich mich besser ausdrücken können – oder mehr Dreistigkeit besessen –, dann hätte ich dem Geistlichen wie dem Ruderer womöglich erklärt, Atheismus und Ästhetik gehörten zusammen, so wie ein muskulöser Körper und Christentum einst für sie zusammengehörten. (Allerdings liefert uns der Sport vielleicht dennoch eine nette Analogie: Hat Camus nicht gesagt, die angemessene Reaktion auf die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher