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Solomord

Solomord

Titel: Solomord
Autoren: Sandra Duenschede
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    Er hatte sich sein Opfer sorgfältig ausgesucht. Das etwa elfjährige Mädchen mit dem rosa Schulranzen kam beinahe täglich mit demselben Bus, der nur wenige Meter entfernt hielt. Bei Regen trug sie meist eine signalgelbe Jacke mit Kapuze, unter der ihre blonden Zöpfe frech hervorlugten. Bei gutem Wetter hatte sie meist nur ein T-Shirt oder einen dünnen Pullover an, denn die Sonne schien für diese Jahreszeit oftmals schon ungewöhnlich stark und ließ die Luft zwischen den angrenzenden Wohnhäusern bereits um die Mittagszeit schwirren.
    Seit Wochen parkte er jeden Morgen pünktlich zum Unterrichtsbeginn in einer der kleinen Seitenstraßen, von wo aus er einen guten Blick auf den Eingang zum Schulhof hatte. Um diese Zeit war es leicht, einen Parkplatz zu finden. Viele Anwohner befanden sich auf ihrem Weg zur Arbeit und machten jede Menge Parkraum frei, wenn sie in ihre Autos stiegen und sich in die rollenden Blechlawinen einreihten, die sich pünktlich zum Beginn der allmorgendlichen Rushhour durch die Hauptverkehrsadern der Stadt schlängelten.
    Auch an diesem Morgen schien die Sonne von einem strahlend blauen Himmel und versprach einen herrlichen Tag. Über den Häusern des Stadtteils lag eine friedliche Stimmung, Vögel zwitscherten fröhlich von den Dächern, Menschen begegneten einander lächelnd und freundlich.
    Wie gewohnt, parkte er in einer der kleinen Seitenstraßen, stellte den Motor seines Wagens ab und blickte erwartungsvoll hinüber zur Bushaltestelle. Erst vorgestern hatte er seine Vorbereitungen endgültig abgeschlossen. Das Versteck war fertig eingerichtet: eine Matratze, ein kleiner Tisch, die Wände mit Dämmplatten sorgfältig isoliert. Einen Tag hatte er sich als Verschnaufpause gegönnt, um heute ausgeruht und wie geplant endlich zuzuschlagen. Schon erschien der 7.45-Uhr-Bus, hielt an dem gläsernen Bushäuschen und entließ eine beachtliche Schar Kinder wenige Meter entfernt vom Eingang des Schulgebäudes. Das Mädchen mit dem rosa Schulranzen war auch dabei. Es trug einen dunkelblauen Jeansrock und ein weißes T-Shirt. Auf dem kurzen Weg zum Schulhof unterhielt es sich angeregt mit einer Freundin. Er beobachtete, wie die beiden Mädchen hinter den Gitterstäben des Eingangstores verschwanden. Seinen Aufzeichnungen zufolge würde der Unterricht heute bis 13.15 Uhr dauern. Er lehnte sich zurück und griff nach der ›Rheinischen Post‹, die auf dem Beifahrersitz lag.
    Gegen elf Uhr verließ er kurz seinen Beobachtungsposten, um in einem nahe gelegenen Gebüsch seine Notdurft zu verrichten. Je näher der Unterrichtsschluss rückte, umso unruhiger wurde er. Nervös trommelte er mit den Fingern auf das Lenkrad, blickte immer wieder in den Rückspiegel und kontrollierte die Uniform, die er für den heutigen Tag extra angezogen hatte. Sie hatte einst seinem Vater gehört, der darin seinen Dienst am Volke geleistet hatte. Seit er jedoch vor etlichen Jahren gestorben war, hatte sie lediglich in dem alten Kleiderschrank seiner Mutter gehangen und den Motten als Brut- und Nahrungsstätte gedient.
    Er strich mit den Fingern über den leicht löchrigen Stoff und ging in Gedanken nochmals die Sätze durch, die er vor dem Badezimmerspiegel eingeübt hatte, indem er sie immer wieder laut aufgesagt hatte. Wie würde das Mädchen reagieren? Würde die Uniform genügend Vertrauen erwecken? Hatte er wirklich alle Möglichkeiten berücksichtigt? Was, wenn sie nicht freiwillig zu ihm ins Auto stieg?
    Endlich sah er die ersten Schüler vom Schulhof laufen. Er startete den Motor und fuhr langsam Richtung Schultor. Sein Puls raste, mit schwitzigen Händen umklammerte er das Lenkrad. Ungeduldig hielt er nach ihr Ausschau und ließ vorsichtshalber schon einmal das Fenster der Beifahrerseite herunter. Bereits wenige Minuten später sah er sie den Schulhof überqueren und atmete auf: Sie war allein. Als sie das Eingangstor passierte, räusperte er sich.
    »Hallo, du!« Das blonde Mädchen schaute auf. »Kannst du mir sagen, wie ich zum Großmarkt komme?«
    Sie nickte. Ihre blonden Zöpfe bewegten sich dabei im Takt ihres Kopfes. Eilig kam sie näher. Ihr Blick war freundlich, sie lächelte. Stolz sagte sie: »Das kann ich. Da wohne ich nämlich!«
    »So ein Zufall!«, er versuchte, überrascht zu klingen. »Wenn das so ist, kann ich dich doch mitnehmen. Dann kannst du mir den Weg direkt zeigen.«
    Sie trat einen Schritt zurück und blickte ihn zögernd an. Er lächelte.
    »Vielleicht springt noch ein wenig Eisgeld
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