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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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fragte ich mich, bevor ich eine halbherzig nachahmende fromme Geste machte und dabei verstohlen durch die Finger blinzelte. In solchen Momenten staunt man über die eigenen Eltern – nicht, weil man etwas Neues über sie erfahren hätte, sondern weil man einen weiteren weißen Fleck der Unwissenheit entdeckt hat. Wollte mein Vater nur höflich sein? Meinte er, wenn er sich einfach auf seinen Platz fallen ließe, würde man ihn für einen Atheisten à la Shelley halten? Ich habe keine Ahnung.
    Er starb einen modernen Tod: im Krankenhaus, ohne seine Familie, in den letzten Momenten von einer Krankenschwester begleitet, und das Monate – ja, Jahre, nachdem die medizinische Wissenschaft sein Leben so weit verlängert hatte, dass die Bedingungen, unter denen es ihm gewährt wurde, recht bescheiden waren. Meine Mutter hatte ihn noch wenige Tage vorher besucht, erkrankte dann aber an einer Gürtelrose. Bei diesem letzten Besuch war er sehr verwirrt gewesen. Sie hatte ihn – auf ihre typische Art – gefragt: »Weißt du, wer ich bin? Das letzte Mal wusstest du nämlich nicht, wen du vor dir hast.« Mein Vater hatte – ebenso typisch – erwidert: »Ich glaube, du bist meine Frau.«
    Ich fuhr meine Mutter ins Krankenhaus, wo man uns eine schwarze Plastiktüte und eine beige Reisetasche aushändigte. Sie durchsuchte beide sehr schnell und wusste genau, was dem Krankenhaus überlassen werden – oder zumindest dort bleiben – sollte. Es sei doch schade, meinte sie, dass er nie die großen braunen Hausschuhe mit den bequemen Klettverschlüssen getragen habe, die sie ihm erst vor ein paar Wochen gekauft hatte; die nahm sie unerklärlicherweise – für mich unerklärlicherweise – mit nach Hause. Sie äußerte sich entsetzt über die Möglichkeit, man könne sie fragen, ob sie Dads Leiche sehen wolle. Bei Grandpas Tod, erzählte sie mir, sei Grandma »zu nichts nütze« gewesen und habe alles ihr überlassen. Im Krankenhaus habe sich dann aber ein ehefrauliches oder atavistisches Bedürfnis gemeldet, und Grandma habe unbedingt die Leiche ihres Mannes sehen wollen. Meine Mutter versuchte ihr das auszureden, doch sie ließ sich nicht beirren. Sie wurden in eine Art Leichenschauraum geführt, wo man ihnen Grandpa zeigte. Grandma drehte sich zu ihrer Tochter um und sagte: »Sieht er nicht entsetzlich aus?«
    Als meine Mutter starb, fragte der Bestattungsunternehmer aus einem Nachbardorf, ob die Familie sie noch einmal sehen wolle. Ich sagte Ja, mein Bruder Nein. Genauer gesagt lautete seine Antwort, als ich ihm die Frage telefonisch weitergab: »Um Gottes willen, nein. In der Hinsicht halte ich es mit Plato.« Mir war der betreffende Text nicht sofort präsent. »Was sagt Plato denn?«, fragte ich. »Dass ihm nichts daran liegt, sich Leichen anzusehen.« Als ich dann allein in dem Bestattungsinstitut erschien – das nichts als ein rückwärtiger Anbau an einem Abschleppunternehmen war –, erklärte der Inhaber entschuldigend: »Im Moment ist sie leider nur im Hinterzimmer.« Ich sah ihn verständnislos an, und er erläuterte: »Sie liegt auf einer Rollbahre.« Ohne nachzudenken, antwortete ich: »Ach, sie hat nie viel Wert auf Formalitäten gelegt«, obwohl ich nicht behaupten konnte, ich hätte gewusst, was sie unter diesen Umständen gewollt oder nicht gewollt hätte.
    Sie lag in einem kleinen, sauberen Raum mit einem Kreuz an der Wand, tatsächlich auf einer Rollbahre und mit dem Hinterkopf zu mir, was mir beim Eintreten eine unmittelbare Konfrontation von Angesicht zu Angesicht ersparte. Sie wirkte, nun ja, ausgesprochen tot: Die Augen geschlossen, der Mund leicht geöffnet, links etwas mehr als rechts, was genau ihre Art war – in aller Regel hatte sie eine Zigarette im rechten Mundwinkel und sprach aus dem linken, bis die Asche zu gefährlicher Länge anwuchs. Ich versuchte, mir ihren Bewusstseinszustand, wenn man es denn so nennen kann, im Moment des Hinscheidens vorzustellen. Dieser Zustand war einige Wochen nach ihrer Verlegung aus dem Krankenhaus in ein Pflegeheim eingetreten. Da war sie schon mehr oder weniger dement, eine Demenz, die wechselnde Formen annahm: Einmal wähnte sie, noch alles unter Kontrolle zu haben, und stauchte die Schwestern unablässig wegen imaginärer Fehler zusammen; dann wieder gestand sie sich ihre Hilflosigkeit ein, wurde wieder zum Kind, alle ihre verstorbenen Angehörigen waren noch am Leben, und die letzte Bemerkung ihrer Mutter oder Großmutter war von höchstem Belang.
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