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Die letzte Fahrt des Tramp Steamer

Die letzte Fahrt des Tramp Steamer

Titel: Die letzte Fahrt des Tramp Steamer
Autoren: Álvaro Mutis
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    E s gibt viele Möglichkeiten, diese Begebenheit zu erzählen – wie es auch viele Möglichkeiten gibt, die belangloseste Episode aus dem Leben jedes Einzelnen von uns zu beschreiben. Ich könnte mit dem beginnen, was für mich das Ende der Geschichte war, was für einen anderen Beteiligten jedoch noch nicht einmal der Anfang gewesen sein dürfte. Und die dritte in die Ereignisse, die ich zu schildern versuchen werde, verwickelte Person gar könnte wohl weder den Anfang noch das Ende dessen ausmachen, was sie damals erlebte. Also habe ich mich entschieden, die Geschehnisse so und in der Chronologie zu berichten, wie ich sie persönlich erfuhr. Vielleicht ist das nicht die interessanteste Art, diese einmalige Liebesgeschichte zu erfahren. Seit ich sie gehört hatte, war ich fest entschlossen, sie jemandem zu erzählen, der sich als Meister darin erwiesen hat, zu schildern, was den Menschen widerfährt. So habe ich es vorgezogen, jetzt, da ich sie für ihn schreibe – denn sie ihm zu erzählen, war mir nicht möglich –, es auf die einfachste, geradlinigste Art zu tun und mich nicht auf Pfade, Umwege und Windungen einzulassen, die ich nicht beherrsche und die auszuprobieren in diesem Fall auch nicht ratsam wäre. Hoffentlich geht ob meines mangelnden Geschicks nicht der Reiz, die schmerzliche, eigenartige Faszination dieser Liebesgeschichte verloren, die in ihrer Vergänglichkeit und Unmöglichkeit etwas von den nie ausgeschöpften Legenden besitzt, die uns jahrhundertelang verzaubert haben, von Pyramus und Thisbe über Tristan und Isolde bis zu Marcel und Albertine.
    Da ich die Geschichte, die ich erzählen werde, aus dem Munde des Protagonisten erfahren habe, bleibt mir nichts anderes übrig, als einzig auf mich selbst und meine geringen Mittel gestützt die Aufgabe ihrer Niederschrift anzupacken. Es wäre mir lieb gewesen, ein Begabterer hätte das getan, aber es war nicht möglich, die hastigen, lauten Tage unseres Lebens haben es nicht erlaubt. Diesen Vorbehalt wollte ich anmelden – er soll mich jedoch nicht vor dem gestrengen Urteil meiner unwahrscheinlichen Leser bewahren. Die Kritik wird wie immer alles andere übernehmen und diese Zeilen, die vom Zeitgeschmack so weit entfernt sind, der Vergessenheit zuführen.

 
     
     
     
    I ch musste nach Helsinki reisen, um an einer Fachtagung für Firmenpublikationen der Erdölgesellschaften teilzunehmen. Ehrlich gesagt, hatte ich sehr wenig Lust dazu. Der November ging seinem Ende entgegen, und die Wettervorhersage für die finnische Hauptstadt war eher düster. Bei meiner Bewunderung für die Musik von Sibelius und einige unvergessliche Seiten des vergessensten aller Nobelpreisträger, Frans Eemil Sillanpää, war meine Neugier, Finnland kennen zu lernen, sofort angestachelt. Auch hatte man mir gesagt, vom äußersten Punkt der Halbinsel Vironniemi aus könne man an nebelfreien Tagen die wundersame Erscheinung von Sankt Petersburg mit seinen goldenen Kirchenkuppeln und dem imposanten Wunderwerk seiner Häuser sehen. Diese Überlegungen genügten, um die schreckliche Aussicht auf einen Winter ins Auge zu fassen, wie ich nie zuvor einen erlebt hatte. Tatsächlich war Helsinki bei vierzig Grad unter null wie in einem durchsichtigen, undurchdringlichen Kristall erstarrt. Jeder Backstein seiner Häuser, jeder Winkel in den Gittern seiner unter marmornem Schnee begrabenen Parks, jedes Detail seiner öffentlichen Denkmäler hob sich in schneidender, fast unerträglicher Reinheit ab. Durch die Straßen der Stadt zu streifen, war ein le bensgefährliches Unternehmen, das freilich beunruhigende ästhetische Entschädigungen bot. Als ich meinen Kollegen auf dem Kongress andeutete, ich wolle versuchen, auf den östlichsten Kai des Hafens zu gelangen, um von dort aus die Stadt Peters des Großen zu erspähen, schauten mich alle an, als wäre ich ein Verrückter ohne die geringsten Überlebenschancen. Bei einem der offiziellen Abendessen warnte mich ein finnischer Kollege höflich, aber – da meine Absicht derart ungeheuerlich war – mit einiger Reserve vor den Gefahren, denen ich ausgesetzt wäre. »An diesem Ort«, erklärte er, »weht ein so heftiger Wind, dass er sämtliche Hindernisse, die ihm in die Quere kommen, als Eisklötze hinter sich zurücklässt. Jeder noch so dicke und schützende Mantel hilft nichts in diesem Fall.« Ich fragte ihn, ob ich mir an einem ruhigen Tag, an einem der seltenen, wo sich eine flüchtige, aber strahlende Sonne zeige,
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