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Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman

Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman

Titel: Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
Autoren: Sabine Klewe
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Prolog
    Siriaki, Ukraine
    Oktober 2002
    Elena sah zu, wie die Schatten länger wurden, wie die Sonne in einem Schleier aus taubengrauem Dunst versank, noch bevor sie den Horizont berührte. Der Herbst hatte einen goldgelben Teppich über der Ebene ausgebreitet. Langsam, kaum merklich, wurden die Tage kürzer, jeden Abend legte sich die Dunkelheit ein wenig früher über das Land. Nachts zog bereits der Winter über die Felder und hinterließ eine Spur aus Reif und Eis. Es war wie jedes Jahr und doch vollkommen fremd. Dieser Winter würde anders werden als alle vorangegangenen. Härter und kälter.
    Elena wollte sich abwenden, die beklemmenden Gedanken an die ungewisse Zukunft abschütteln, als der Schmerz sie mitten in der Bewegung lähmte. Es war, als risse eine ungeheure Kraft ihren Körper auseinander. Sie krümmte sich und presste die linke Hand auf ihren Unterleib, während sie sich mit der rechten auf der hölzernen Tischplatte abstützte. Sie keuchte, rang nach Atem, wartete, bis der Schmerz verebbte. Als nur noch ein schwaches Ziehen zu spüren war, stolperte sie zur Tür und trat hinaus. Der Abend war kühl, eine leichte Brise trug den Geruch nach Holzfeuer über die Ebene und strich ihr über das schweißnasse Gesicht. Erste Sterne funkelten am Himmel und verhießen eine frostige Nacht.
    »Jurij«, flüsterte sie. »Jurotschka, wo steckst du? Komm zu mir, ich brauche dich!«
    Sie horchte, doch alles war still. Was, wenn Jurij sich nicht gleich nach der Arbeit auf den Heimweg gemacht hatte? Wenn er heute später nach Hause kam? Oder gar nicht? Die Nacht bei dieser Frau verbrachte, dieser Magdalena, die er nie mit hierherbrachte, weil er sich schämte für sein ärmliches Haus und für seine einfältige Schwester. Eine aus der Stadt war sie, aus Kiew, elegant und gebildet. Was sie von einem wie Jurij wollte, war Elena schleierhaft.
    Wieder fuhr der Schmerz durch ihren Körper wie der Hieb eines Beils. Sie klammerte sich an den Türrahmen, um nicht einzuknicken, presste ihre Stirn an das kühle Holz. »Jurij, hilf mir!«, wollte sie rufen, doch alles, was sie über die Lippen brachte, war ein heiseres Stöhnen. Sie war allein. Niemand würde ihr helfen, wenn Jurij nicht kam. Der Gedanke war noch unerträglicher als das Reißen in ihrem Unterleib.
    Ihr Blick huschte hinüber zu Olgas Haus, das nicht mehr war als ein weißer Fleck in der grauen Dämmerung. Ein winziges Licht brannte dort, ein schmaler, silbriger Rauchfaden schlängelte sich aus dem Schornstein in den kobaltblauen Abendhimmel und versprach Wärme und Geborgenheit. Doch sie durfte nicht mit Olga reden. Geschweige denn, sie um Hilfe bitten. Jurij verachtete Olga, er hielt sie für eine Verräterin, auch wenn er sich weigerte zu erklären, was er damit meinte. Elena senkte den Blick. Sinnlos, sich darüber Gedanken zu machen. Vermutlich hätte sie ohnehin nicht mehr die Kraft, sich bis zu Olgas Haus zu schleppen.
    Aber was sonst sollte sie tun? Tränen schossen ihr in die Augen. Ihre Finger zitterten. Ihr ganzer Körper bebte. Sie war ein hilfloses Bündel aus Schmerz und Angst. Das Reißen breitete sich in ihren Gliedern aus, als wolle es sie von innen her verschlingen, es tötete jeden Gedanken ab, stieß sie ins Nichts. Einen Moment lang verschwammen der Türrahmen und die Landschaft dahinter vor ihren Augen zu einer schwarzgrauen formlosen Masse, dann wurde ihr Blick wieder klar. Der Schmerz ließ nach, ein wenig zumindest. Elena versuchte, regelmäßig und ruhig zu atmen. Ein, aus, ein, aus. Sie starrte auf ihre Finger. Die Knöchel waren weiß, weil sie sich so festgekrallt hatte. Sie konzentrierte sich auf ihren Atem.
    Gerade als sie sich erleichtert aufrichten wollte, kehrte der Schmerz mit grausamer Entschlossenheit zurück. Elenas Beine gaben nach, stöhnend sank sie auf die Knie. Als ihre Hände ihren Schoß berührten, spürte sie etwas Feuchtes auf ihrer nackten Haut. Erschrocken senkte sie den Blick, erstarrte, als sie ihre blutverschmierten Finger sah.
    Ich werde sterben, dachte sie, und der Gedanke hatte beinahe etwas Tröstliches.
    Sie schloss die Augen, lehnte den Kopf gegen die Türfassung und ließ den Schmerz über sich hinwegrollen wie eine mächtige Woge des Schwarzen Meeres. Sie wollte ertrinken in diesen Fluten, in diesem Meer, über das sie so viele Geschichten kannte, das sie jedoch noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte.
    Das Letzte, was sie vernahm, war das leise Tuckern des Zweitakters, der sich langsam
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