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Die letzte Fahrt des Tramp Steamer

Die letzte Fahrt des Tramp Steamer

Titel: Die letzte Fahrt des Tramp Steamer
Autoren: Álvaro Mutis
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meinen Traum erfüllen könnte, das Venedig des Nordens zu sehen, und sei es nur aus der Ferne. Ja, es war möglich, vorausgesetzt, ich hatte einen Wagen zur Verfügung, der mich auf der Stelle ins Hotel zurückbrachte, sobald das Wetter umschlug, was in dieser Jahreszeit innerhalb weniger Minuten geschehen konnte. Die Vertreter meiner Gesellschaft in Finnland boten sich an, mir ein Auto zu besorgen und mich rechtzeitig zu benachrichtigen, sobald ein sonniger Tag bevorstünde.
    Die Gelegenheit bot sich sehr viel eher, als ich erwartet hatte. Schon nach zwei Tagen erhielt ich einen Anruf, in dem man mir mitteilte, ich würde am nächsten Tag abgeholt und an den bewussten Ort gebracht. Die Meteorologen unserer Firma hätten drei Stunden Sonne ohne eine Spur von Nebel garantiert. Mit beispielhafter Pünktlichkeit holte mich anderntags das Auto vor der Hoteltür ab. Wir nahmen die Ringstraße, die einen Teil der Stadt umgibt und in die Außenbezirke bis zum Molenbereich führt. Der Fahrer beherrschte keine andere Sprache als Finnisch. Nicht einmal mit den paar schwedischen Brocken meiner Erfindung war eine Verständigung möglich. Aber mit diesem wie den Seiten des Kalevala entsprungenen Lenker hatte ich auch nicht viel zu reden. Die Fahrt, die ich mir länger vorgestellt hatte, dauerte nur knapp zwanzig Minuten. Als ich ausstieg, verschlug mir das Schauspiel die Sprache. Die Luft war vollkommen durchsichtig. Jeder Kran auf den Molen, jeder Halm am Ufer, jedes Schiff, das in unwirklicher Stille auf den unbeweglichen Wassern der Bucht kreuzte, sah so rein aus, als habe die Welt eben erst begonnen. Mit derselben Klarheit erhob sich im Hintergrund in unfasslicher Nähe die Stadt, die Peter Romanow erbaut hatte, um seinen genialen Autokratenwahnsinn und, da er ein verschlagener Sprössling Iwans des Schrecklichen war, gleichzeitig schäbigen Plan zu erfüllen. Die weißen Häuser und die strahlenden Kirchenkuppeln, die Molen aus blutrotem Granit und die lieblichen, die Kanäle überspannenden Brücken im italienischen Stil waren zum Greifen nahe. Eine riesige, an der Fassade der Admiralität flatternde rote Fahne holte mich in eine Gegenwart zurück, deren schwülstige Dummheit in diesem Augenblick und in dieser Szenerie, die mich mit ihren perfekten Proportionen und dem Hauch von anderer Welt überwältigte, unvorstellbar erschien. Ich setzte mich auf die Kante der Granitmauer, die den Asphaltweg schützte, und versank, die Füße über dem stählernen Wasserspiegel, in die Betrachtung eines Wunders, das sich in meinem Leben ganz gewiss nie mehr wiederholen würde. In diesem Moment erschien mir zum ersten Mal der Tramp Steamer, eine Figur von einzigartiger Bedeutung in der Geschichte, die uns beschäftigt. Bekanntlich werden so die Frachtschiffe mit kleiner Tonnage genannt, die zu keiner der großen Schifffahrtsgesellschaften gehören und auf der Suche nach Gelegenheitsladungen, die sie irgendwohin bringen können, von Hafen zu Hafen kreuzen. So leben sie mehr schlecht als recht, ihre verwundete Erscheinung sehr viel länger durch die Zeit schleppend, als uns ihr kritischer Zustand annehmen lassen könnte.
    Langsam wie ein angeschlagener Saurier kam er plötzlich in mein Gesichtsfeld. Ich traute meinen Augen nicht. Das strahlende Wunder Sankt Petersburg im Hintergrund, drang der jammervolle Frachter allmählich in den Raum ein, die Breitseiten bis zur Wasserlinie hinunter voll schmieriger Rost- und Schmutzspuren. Die Kommandobrücke und die für Besatzung und gelegentliche Fahrgäste bestimmten Kajüten waren vor sehr langer Zeit weiß gestrichen worden. Jetzt überzog sie eine Schmutz-, Öl- und Rostschicht mit einer undefinierbaren Farbe, mit der Farbe des Elends, des unaufhaltsamen Niedergangs, einer verzweifelten, unablässigen Abnutzung. Unwirklich glitt er dahin, im Todesröcheln seiner Maschinen, im stockenden Rhythmus seiner Pleuelstangen, die von einem Augenblick auf den andern für immer zu verstummen drohten. Schon nahm er in dem unwirklich-heiteren Schauspiel, in das ich versunken war, den Vordergrund ein, und mein verwundertes Staunen ging in etwas sehr schwer Definierbares über. Dieser heruntergekommene Meerstreicher war so etwas wie ein Zeugnis unseres Schicksals auf Erden. Ein ›pulvis eris‹, das sich auf diesem Wasser von geschliffenem Metall, die golden-weiße Ankündigung der Hauptstadt der letzten Zaren im Hintergrund, noch beredter und bestimmter ausnahm. Zu meiner Seite erhoben sich die schlanken
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