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Gib mir deine Seele

Gib mir deine Seele

Titel: Gib mir deine Seele
Autoren: Jeanine Krock
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1 Venedig – Die Fremde auf der Brücke
    Später wusste Constantin nich t mehr, was ihn bewogen hatte, die Türen weit zu öffnen und auf den Balkon hinauszutreten. Sein vom Duschen erhitzter Körper dampfte, und das nachlässig um die Hüften geschlungene Handtuch drohte hinabzurutschen, aber Sorge, gesehen zu werden, hatte er nicht. Hinter ihm leuchtete als einzige Lichtquelle der geradezu unanständig große Bildschirm im Salon seiner Suite. »Drei Tote allein in dieser Woche«, verkündete die Sprecherin des Regionalsenders lakonisch, bevor sie den Wetterbericht verlas. Jeder Venezianer wusste schließlich, dass im November die Melancholiker kamen.
    Das nur von wenigen Lampen erleuchtete Sestiere wirkte menschenleer, bis Constantin eine Bewegung in der engen Gasse am anderen Ufer wahrnahm. Nahezu geisterhaft bewegte sich eine Gestalt auf die steinerne Brücke zu, die seit Jahrhunderten über den schmalen Canale führte, der vor dem Hotel träge dahinfloss. Die flachen Stufen zu bewältigen schien ihr schwerzufallen. Als drückte sie eine große Last nieder, erklomm sie den Brückenbogen mit schleppenden Schritten. Oben angekommen richtete sie sich auf, wie jemand, der eine wichtige Etappe auf seinem Weg erreicht hatte. Ihre Schuhe – die sie in der Hand gehalten hatte – stellte sie auf die Balustrade, lehnte sich weit vor und blickte, mit beiden Händen abgestützt, in das schwarze Wasser.
    Sie wird doch nicht hineinspringen wollen? Der Gedanke erschien ihm absurd, ebenso absurd wie die Idee, zu dieser Jahreszeit barfuß, ohne Jacke und in einem ärmellosen Kleid ziellos durch die menschenleeren Gassen zu wandern. Offensichtlich eine Verrückte.
    Aufziehende Wolken verdunkelten die Szene, als missbilligte der Himmel sein vorschnelles Urteil. Irgendwo klapperten Absätze, helles Lachen erklang, eine dunkle Männerstimme antwortete. Im Palazzo ein Stück weiter den Weg hinunter wurden Fensterläden zugeklappt. Einst hatte Constantin dort logiert, doch das war so lange her, dass er sich daran kaum erinnerte. Die jetzigen Besitzer kamen nur zum Karneval, über das Jahr vermieteten sie ihre luxuriöse Herberge an wohlhabende Touristen.
    Sein Blick wanderte zur Brücke zurück. Da stand die Fremde immer noch regungslos, und er hätte ihr am liebsten zugerufen, endlich weiterzugehen. Nach Hause, zu ihrer Familie oder in ihre Pension. Venedig war kein gigantisches Freilichtmuseum, es war eine Stadt wie jede andere, in der junge Frauen seiner Meinung nach nicht allein durch die Nacht spazieren sollten. Doch Constantin tat nichts dergleichen, sondern wandte sich, weil sie sich nicht rührte, ab und ging wieder hinein, als die ersten Regentropfen auf seine baren Schultern fielen.
    Ihm war kalt. Mit raschen Schritten ging er zum Schrank, nahm nach kurzer Überlegung ein Hemd heraus, dessen sattes Blau die Farbe seiner Augen zum Strahlen brachte, und zog die anthrazitfarbene Hose vom Bügel, die am Morgen frisch aus der Reinigung gekommen war. Er hatte plötzlich Lust, einen Drink an der Hotelbar zu nehmen, statt sich am Cognac zu bedienen, der zur Ausstattung seiner Suite gehörte. Es war noch nicht allzu spät. Nach einem mittelmäßigen Abendessen in fantasieloser Gesellschaft hatte er unter dem Vorwand, einen Termin zu haben, so rasch wie möglich das Weite gesucht. Und trotz Barbesuch würde ihm noch ausreichend Zeit bleiben, sich auf das morgige Meeting vorzubereiten. Der Kurator der Bienale hatte die wichtigsten Sponsoren eingeladen, um sie über den Stand der Planungen zu informieren, zweifellos in der Absicht, ihnen zusätzliche finanzielle Unterstützung zu entlocken.
    Während er seine Haare mit einem Handtuch trocknete, dachte er allerdings nicht über die Kunst nach oder über Geld – von dem er genug besaß, damit es ihm nichts bedeutete. Stattdessen beschäftigte ihn die merkwürdige Gestalt auf der Brücke. Unübersehbar eine Frau, eine junge, falls ihn nicht alles täuschte. Was hatte sie an diesem ungemütlichen Abend hinausgetrieben? Die Venezianer feierten heute das Ende einer schrecklichen Pestepidemie im fünfzehnten Jahrhundert, und die halbe Stadt war auf den Beinen. Wenn auch nicht hier, sondern drüben, auf der anderen Seite des Canale Grande, rund um die Basilika Santa Maria della Salute, wo es eine Prozession gab, stündliche Gottesdienste und Stände mit heißen Fritelle sowie den unterschiedlichsten warmen und kalten Leckereien. Vielleicht war sie mit ihrem Mann oder Freund in Streit geraten
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