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Sinfonie des Todes

Sinfonie des Todes

Titel: Sinfonie des Todes
Autoren: Armin Öhri / Vanessa Tschirky
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1. Kapitel
    Meran stand ihm noch immer vor Augen. Das sonnige, angenehme Meran. Voller Schwermut dachte der Sektionsrat an das mediterrane Klima, an die hohen Bergketten, die den Talkessel, in dem die Stadt lag, schützend umgaben, und an die Parkanlagen, die so weitläufig und schön waren, dass man stundenlang in ihnen verweilen konnte. Er lehnte die Stirn an das beschlagene Fenster seines Zugwaggons und wurde melancholisch. Der Regen drückte feine, dünnfadige Striche an die Scheiben. Instinktiv wich der Passagier wieder zurück, knöpfte seinen Hemdkragen zu und zupfte an dem Plaid, das über seinen Schoß ausgebreitet war. Nässe war ihm mittlerweile ein Gräuel geworden, und so sah er mit Unbill den kommenden Tagen in Wien entgegen.
    Die sechs Treibräder der Lok ratterten über die Gleise, während auf dem Metall des Langkessels die Regentropfen zischend verdampften. Wie ein stählerner Lindwurm wälzte sich die Eisenbahn durch die Vororte, vorüber an Landschaften, die sich schemenhaft und verschwommen ausnahmen. Tannen und Büsche flogen vorbei – im Dunkel der Nacht kaum mehr zu erkennen –, Hütten, Tennen, windschiefe Bauernhäuser, natürlich die unvermeidlichen Telegrafenstangen, schließlich die ersten größeren Wohnungen und Arbeitersiedlungen, welche die Vorstadt ankündigten. Als das grelle Pfeifen der Klotzbremsen einsetzte, richtete sich Fichtner in seinem Sitz auf. Er war froh, das stickige Coupé verlassen zu können, wenngleich ihn die Aussicht auf die klammen Straßen der Hauptstadt betrübt stimmte.
    Fauchend und brüllend fuhr der Nachtzug in den Bahnhof ein. Der Reisende erhob sich, griff nach seinem Gepäck und entriegelte die Kabinentür. Wie jedes Mal, wenn er aus der Ferne kam, aus dem Wagen trat und seinen heimwehkranken Blick über das Areal des Südbahnhofs schweifen ließ, bemerkte er die unsägliche Enge der Seiten- und der Zungenbahnsteige. Die Perrons waren schmal, viel zu schmal nach seinem Geschmack, und er fragte sich, wie man diese nachteilige Konzeption gleichzeitig mit dem eigentlichen Hallenportal hatte bauen können, das um so vieles funktionaler und deutlich auf klarere Linien ausgerichtet war.
    Fichtner hustete. Die Augen waren ihm auf der Reise schwer geworden, und nun drängelte er sich träge durch die Massen. Er war am nördlichen Seitenbahnsteig angekommen. Ein glücklicher Zufall, denn der Sektionsrat rief sich ins Gedächtnis, dass von hier aus eine Stiege direkt an die Seitenfront der Halle führte, von wo aus ein Glasdach den Vorplatz zwischen den Seitenpavillons überspannte. Er lief also nicht Gefahr, nass zu werden, und so lenkte er die Schritte diesem Ziel zu.
    Zwischen steinernen Markuslöwen, die die Pavillons flankierten, warteten einige Fiaker und Einspänner auf die Neuangekommenen. Fichtner wollte eines der Gefährte heranpfeifen, besann sich aber eines Besseren und winkte einfach mit der Hand. Danach räusperte er sich, griff sich an den Hals und massierte mit festen rhythmischen Bewegungen seinen Adamsapfel. Sobald der Kutscher die Koffer verstaut hätte, so nahm sich Fichtner fest vor, würde er einen Schluck Milch trinken …
    Der Führer eines alten, luxuriösen Janschky-Wagens hatte ihn erblickt. Zwei gutmütig glotzende Pferde trabten heran und blieben schnaubend neben dem Sektionsrat stehen. Behände sprang der Kutscher vom Bock, übernahm das Gepäck und meinte: »Kommen S’, steigen S’ ein, wir stehen der Tramway im Wege.«
    Der Mann stieg ein, nachdem er seinen Bestimmungsort angegeben hatte, und ließ sich auf die Polster fallen. Die Kutsche war elegant, sogar viersitzig, und Fichtner öffnete sein Handgepäck, sowie er sicher war, von dem Kutscher nicht mehr beachtet zu werden. Er nahm eine Flasche, deren trüber weißer Inhalt ihn leicht zum Gespött machen könnte, und setzte zu einem Schluck an. Der Sektionsrat verzog das Gesicht: Wie er doch all diese diätetischen Mittel verabscheute! Als er sein kleines Geheimnis wieder in die Tasche verschwinden ließ, holperte das Gespann gerade bei den Kassenhallen über die ins Pflaster eingelassenen Umkehrschleifen der Straßenbahn. Der Regen prasselte auf das Kutschendach, sobald sie die schützende Glasüberdachung des Bahnhofs hinter sich gelassen hatten.
    Soll ich noch ins Café Hochleitner gehen, überlegte er, eine Hasardpartie wagen oder Tarock spielen? Dann aber verwarf er den leichtsinnigen, jedoch so verlockenden Gedanken, der in ihm aufgekeimt war, und nahm sich fest vor,
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