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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte
Autoren: Gaetano Cappelli
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    Ich bin ein Waisenkind, eine arme Vollwaise. Das ist das Erste, was ich mit Sicherheit über mein Leben weiß, aber es regt mich nicht weiter auf.
    Das heißt, am Anfang war es wohl schon schwer, nur dass ich mich nicht mehr daran erinnere, an diese Anfangszeit. Ich muss viel geweint haben - was natürlich ist. Du bist vier und hängst noch am Rockzipfel der Mamma, und plötzlich ist deine Mutter weg, und alle - deine Tanten, deine Onkel, vermute ich mal - sagen dir ständig, dass sie weg ist, aber irgendwann wiederkommt und du nicht zu verzweifeln brauchst. Aber sie kommt nicht wieder.
    Mein Vater übrigens auch nicht, aber der ist sowieso nie da gewesen. Nonnilde hat sein Foto von seinem Stammplatz auf dem Klavier genommen und auf die Kommode im Schlafzimmer gestellt, neben das von Großvater Carlo, Onkel Arcangelo und den vielen anderen, die ich nicht kenne. Daneben hat sie das Foto von meiner Mutter platziert - ein Foto mit Farben, die wie die Flecken eines misslungenen Aquarells aussehen: Sie trägt ein Kleid aus grüner Seide, neigt sich so zur Seite, dass ihr Haar auf die Schulter fällt, und lächelt, obwohl sie am Rand eines finsteren Bergkamms steht. Jeden Morgen werfe ich der Mamma eine Kusshand zu und auch dem Babbo eine, dann bekreuzige ich mich und renne barfuß ins Klo, weil ich dringend muss. Nachts wache ich manchmal auf und weine. »Sei still. Schlaf «, sagt Nonnilde dann ungerührt. Und ich bin still und schlafe. Bei ihr gibt es keine Diskussionen - daran kann niemand in der Familie rütteln.

    Seit Großvater Carlo tot ist, führt sie das Kommando. Wenn man das gemeinsame Foto von Großvater und Großmutter betrachtet - unser Haus ist voller Fotos, und dieses befindet sich im Salon mit den Jugendstilmöbeln: er hager, elegant, mit Schnauzer und mit einem Spitzbart auf dem vorgereckten Kinn, die großen Augen sehr sanft, sie im dunklen Kleid mit Blümchenmuster nach französischer Art, zwischen den Fingern die Steine einer ihrer hundert Halsketten und etwas Bedrohliches im Blick -, wenn man sich also die beiden auf diesem Foto ansieht, ist klar, dass es immer schon die Großmutter war, die das Sagen hatte. Es wurde am Tag ihrer Hochzeit aufgenommen. Nonnilde ist nicht in Weiß, weil kurz zuvor ihr Bruder Arcangelo massakriert wurde, der Dichter und Afrika-Legionär - tatsächlich ist er bis auf ein Schienbein aufgefressen worden, wie ich aus einer jener gewundenen Familiengeschichten weiß, die ich hin und wieder aus ihrem Mund höre. Und obwohl sie nicht mehr ganz jung war - sie wird wohl schon über dreißig gewesen sein - und die Ehe mit Großvater Carlo kaum zwei Jahrzehnte dauerte, ist es ihr gelungen, ein Dutzend Kinder auf die Welt zu werfen. Vier von ihnen - Gioacchino, Isidoro, Betta und Agnese - hat sie als Kleinkinder, dahingerafft von Lungenentzündung, Typhus und Masern, zu Grabe getragen und eines, nämlich Enrico, meinen Vater, als Erwachsenen. Von den Überlebenden haben sich zwei in die Klausur eines Klosters zurückgezogen. Die Übrigen sind ordnungsgemäß verheiratet und haben das große Haus, in dem wir unter ihrer unanfechtbaren Herrschaft leben, niemals verlassen. Und Nonnilde kennt wirklich keine Gnade.
    Klein, knochig und mit abstehendem, von schwarzen Strähnen durchzogenem Silberhaar tigert sie wie eine Wildkatze durch die stillen großen Zimmer, eine faszinierende Tscherkessenkönigin mit räuberischen Krallen, die in einem fort die Perlen ihrer Ketten malträtieren, und flinken, bohrenden Augen unter finsteren Brauen. Mit einem einzigen Blick kann sie ihr Gegenüber vernichten.
    Der kritische Moment des Tages ist das Mittagessen. Jeden Tag sind wir fast dreißig Personen an dem langen Tisch - wer irgend
kann, versucht, außer Haus satt zu werden -, reumütig wie die Bauern auf Millets Angelus , das an der Wand hängt. Sie jagt uns Schauer über den Rücken, wenn sie uns der Reihe nach mustert - ein Katzenwesen, das sein Opfer aus der Herde herauspickt -, obgleich ihre wahre Leidenschaft darin besteht, ihre Wut an den Erwachsenen auszulassen, an den Söhnen oder Töchtern, Schwiegersöhnen oder Schwiegertöchtern, ohne Rücksicht auf Geschlecht oder Verwandtschaftsgrad - in dieser Hinsicht ist sie absolut unparteiisch. Wenn nichts Geschäftliches anliegt, begnügt sie sich mit irgendetwas anderem - mit einer Gabel, die über den Teller kratzt, mit einem Fleck auf dem Hemd, mit einer noch so geringen Verspätung -, stets bereit, aus der Haut zu fahren. Es kommt
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