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220 - Die Reise nach Taraganda

220 - Die Reise nach Taraganda

Titel: 220 - Die Reise nach Taraganda
Autoren: Ronald M. Hahn
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Das Tier spürte wohl, dass der Zweibeiner sich nicht fürchtete. Um ihre eigene Dominanz zu zeigen, fauchte die Katze noch einmal. Dann zog sie sich in das Dickicht zurück, aus dem sie gekommen war.
    Rulfan lächelte. So sind sie, unsere vierbeinigen Freunde: Immer darauf bedacht, einen mutigen Eindruck zu machen, damit der Feind sich nicht ermuntert fühlt.
    Die Dunstwölkchen über dem Wasser lösten sich auf. Rulfan schickte sich an, den Fluss zu durchqueren. Er hatte gerade zwei Schritte gemacht, als vor ihm der armdicke Leib einer monströsen Würgeschlange aus dem Nass in die Höhe schoss. Ein faustgroßer Kopf. Ein offenes Maul. Eine gespaltene Zunge zwischen zwei spitzen Zähnen. Ihr Zischen ließ ihn wissen, dass der Fluss ihr Eigentum war, den kein Fremder durchqueren durfte.
    Rulfan stieß impulsiv einen Fluch aus: Die Klinge in seiner Hand spiegelte das Sonnenlicht, als sie hoch ruckte und ihr Ziel fand. Der Kopf der Wasserschlange flog meterweit. Ihr Leib ringelte sich im Reflex und klatschte ins Wasser. Die Strömung packte ihn und nahm ihn mit. Im Dickicht kreischten Vögel triumphierend auf. Vor Freude?
    »Das hast du nun davon, dummes Vieh.« Rulfan watete weiter. Das Wasser reichte bis an seine Knie. Er kam fast trocken ans andere Ufer.
    Dort schaute er sich um. Er hatte allmählich genug von den Überraschungen des Lebens. Er sehnte sich nach Ruhe und Frieden. Vielleicht auch nach einer Hängematte. Hinter ihm lagen ein politischer Umsturzversuch in der Wolkenstadt des Kaisers und – viel schlimmer – mehrere Gespräche mit der Frau, die er nicht verlieren wollte. Dabei kannte er sie kaum. Sie hieß Lay und verkehrte in eigenartigen Kreisen. Aber sie hatte irgendwas, das heftig auf seinen Hormonhaushalt einwirkte.
    Rulfan lauschte den Geräuschen der ihm noch immer fremden afrikanischen Tierwelt und arbeitete sich vorsichtig durch den Busch.
    Die Lichtung, auf der Lay und ihr Stammesgenosse das Lager aufgeschlagen hatten – zum Leben in der schwebenden Stadt am See waren sie nicht zu überreden gewesen – war leer. Die von faustgroßen Steinen umgebene Feuerstelle war kalt. Der Raum unter dem Schutzdach war seit Tagen nicht betreten worden.
    Rulfans Blick wanderte an den Bäumen aufwärts. Lay und Zarr waren exzellente Kletterer. Sie konnten in Astgabeln schlafen, ohne sich die Knochen zu verbiegen.
    Wo steckten sie? Sie waren doch wohl nicht ohne ihn nach Taraganda aufgebrochen? Nein, sie hatten ein Abkommen. Doch andererseits… Wieso wurde er das Gefühl nicht los, dass Lay ihm misstraute? Wieso wollte sie nicht verstehen, dass die Geliebte seines Freundes auch seine Freundin und ihm deswegen wichtig war? Wieso hatte sie so wenig Verständnis dafür, dass er hier auf Matt warten musste, weil sie sich sonst vielleicht für immer aus den Augen verloren?
    Klatsch!, machte es hinter Rulfan.
    Er fuhr herum, die Klinge abwehrbereit. Die vermeintliche Bedrohung stand nicht fern von ihm an einem Baum und ließ die Liane los, an der sie sich zu Boden geschwungen hatte: Lay!
    »Wär ich Feind, du jetzt tot.«
    »Vielleicht.« Rulfan breitete die Arme aus. Er war vor vier Tagen zuletzt hier gewesen. Es hätte ihn gefreut, wenn die Frau, die sein Herz pochen ließ, sich an seine Brust geschmiegt hätte. Wieso war sie nun so reserviert?
    »Wo ist Zarr?« Rulfan schaute sich um. Er wollte das Thema meiden, das er fürchtete.
    Lay zuckte die Achseln. »Jagen.«
    »Prinz Victorius hat euch doch mit genügend Proviant versorgt.« Er schaute zum Unterstand hinüber, konnte aber keine Vorräte entdecken.
    Lay nickte. »Zwei Nächte vorher. Leukomorphen kommen. Sind immer hungrig. Konnte nicht alles auf Baum bringen.«
    Rulfan nickte verstehend. Mit Leukomorphen war nicht zu spaßen. Er war froh, dass Lay und Zarr noch lebten.
    Lay kam näher. Ihre Augen funkelten. Sie wirkte irgendwie geladen. »Du gesagt, wenn Gefahr vorbei, wir suchen Gefährtin von dein Bruder.«
    Die Gefahr, auf die sie anspielte, hatte einen Namen: Pierre de Fouché. Oder vielmehr: gehabt. Der Herr Kriegsminister hatte es sich gestattet, in Abwesenheit Seiner Excellenz zu putschen. Rulfan hatte seinem adeligen Freund Victorius bei der Niederschlagung der Revolte geholfen. Bei seiner anschließenden Flucht hatte Zarr den Minister erwischt und – nach eigener Aussage – »gebissen tot«.
    »Stimmt.« Rulfan nickte. »Aber…«
    »Gefahr siebenundzwanzig Tage vorbei.«
    Es waren achtundzwanzig, aber Rulfan wollte Lay nicht
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