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Der Spion und der Analytiker

Der Spion und der Analytiker

Titel: Der Spion und der Analytiker
Autoren: Liaty Pisani
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    Ogden landete an einem sonnigen, aber kalten Morgen auf dem Flughafen von Wien. Er nahm ein Taxi und ließ sich ins Hotel de France am Schottenring bringen, wo die Teilnehmer des Psychoanalytiker-Kongresses untergebracht sein sollten.
    Als er in seinem Zimmer war, machte er das Diplomatenköfferchen auf und sah noch einmal die Unterlagen für das Komplott durch: er sollte sich als Verleger von Kunstbüchern ausgeben, der sein Programm durch eine Essayreihe erweitern wollte.
    Er nahm die Akte über sein Objekt heraus und las sie wieder durch. Dr. Vincent Guthrie war vor fünfzig Jahren als Sohn wohlhabender Eltern in Wien geboren worden. Sein Vater, ein Bankdirektor, war schon lange tot; die Mutter, die noch lebte, hatte in ihrer Jugend die Kunstakademie besucht, ihr Studium aber abgebrochen, als sie heiratete. Aus der Ehe waren zwei Kinder hervorgegangen: Vincent und die drei Jahre jüngere Schwester Leonora. Es folgten verschiedene Einzelheiten aus dem Leben der Eltern, einschließlich eines Seitensprungs der Mutter, durch den die Ehe fast Schiffbruch erlitten hätte, als Vincent gerade zwölf Jahre alt war. Ogden fragte sich, ob der Doktor davon wohl etwas ahnte.
    Guthrie hatte immer in Wien gelebt; nur während der Ausbildungszeit, die er anfangs in einem Internat in St. Gallen, dann wieder in Wien an der Medizinischen Fakultät und schließlich zur Facharztausbildung in London verbracht hatte, war er nicht in seiner Heimatstadt gewesen.
    Als Verfasser eines grundlegenden Werkes über infantile Neurosen war er wissenschaftlich anerkannt und galt als sehr einfühlsamer Analytiker; das einzige, was man ihm zum Vorwurf machte, war eine gewisse Trägheit: in der Tat hieß es in Kollegenkreisen allgemein, daß er mehr hätte veröffentlichen können und sollen.
    Offenbar kümmerte sich Dr. Guthrie mehr um seine Patienten als um die Nachwelt, dachte Ogden. Er sollte ihm nun als angeblicher Verleger bei diesem Kongreß den Vorschlag machen, mit einem Werk die geplante Essayreihe »Das moderne Denken« zu eröffnen.
    Vincent Guthrie hatte zwei volljährige Kinder und war geschieden. Er lebte allein, hatte eine Haushälterin, nahm seine Mahlzeiten aber fast regelmäßig in einem Restaurant ein, das seinem Haus gegenüberlag. Er pflegte nur mit wenigen Freunden Umgang, die fast alle aus Psychoanalytikerkreisen stammten, die einzige Ausnahme bildete ein ehemaliger Studienfreund, mit dem er sich durchschnittlich einmal in der Woche zum Abendessen traf. Über Ausschweifungen oder Laster war nichts bekannt, außer daß er vielleicht eine gewisse Schwäche für Alkohol hatte. Dr. Guthrie war offenbar ein anständiger Mensch, was immer das heißen mag.
     
     
    Es war fünf Uhr. Ogden hatte den Nachmittag damit verbracht, die Gegend auszukundschaften und Guthries Haus von außen zu beobachten. Er hatte Guthrie zweimal herauskommen sehen: das erste Mal war der Arzt einen Kaffee trinken gegangen, das zweite Mal hatte er drei Päckchen Gitanes und eine Zehnerpackung Sicherheitsstreichhölzer gekauft.
    In den zwei Stunden, die Ogden auf Beobachtungsposten vor dem schönen Wohnhaus Guthries in der Heinrichsgasse stand, hatte er, in einem Abstand von jeweils fünfundvierzig Minuten, zwei Personen herauskommen sehen, eine Frau und einen Mann. Um fünf war auch die Hausangestellte herausgekommen und zügig zur Bushaltestelle gegangen. Wobei die Fotos, die der Dienst geliefert hatte, ihr nicht gerecht wurden, sie war hübscher, als aus dem Berliner Dossier hervorging. Grete war fünfundfünfzig und seit sieben Jahren, seit der Doktor sich hatte scheiden lassen, bei ihm angestellt.
    Um sechs ging Ogden, nachdem er den vermutlich letzten Patienten hatte eintreten sehen – einen großen Mann mit einem strengen und traurigen Gesicht – zu seinem Auto zurück, das er in der Nähe geparkt hatte.
    Als er wieder ins Hotel zurückgekehrt war, verfaßte er einen Bericht über seinen ersten Tag in Wien. Das machte er immer, wenn er einen neuen Auftrag übernommen hatte, als bekämen die unbestimmten Indizien, die Bruchstücke, aus denen sich noch keine Geschichte zusammenreimen ließ, durch die schriftliche Form mehr Zusammenhang. Nachdem er seinen Bericht noch einmal durchgelesen hatte, zerriß er ihn und verbrannte die Papierfetzen im Aschenbecher.
    Auch die zwei Stunden, die er mit der Beobachtung von Guthries Haus verbracht hatte, gehörten zu diesem scheinbar sinnlosen Zeremoniell: seine Leute würden ihm auf jeden Fall Bericht
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