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Nachtblüten

Nachtblüten

Titel: Nachtblüten
Autoren: Magdalen Nabb
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einen unbefestigten Weg in die Berge hinauf.
    »Um die Zeit werden zumindest die jüngeren Kinder schon gegessen haben.«
    Sie hatten. Diejenigen, die sich bereits gut eingelebt hatten und nicht mehr so schüchtern waren, rannten dem Auto kreischend entgegen, nahmen die beiden Männer an den Händen und zerrten sie in sechs Richtungen gleichzeitig – um ihnen den neuen Hund zu zeigen, die kleinen Kaninchen, eine brütende Henne, ein Schulzeugnis, den neuen Fernseher. Die Neuankömmlinge warteten scheu, aber interessiert im Hintergrund.
    Der Staatsanwalt begrüßte seinen alten Freund, den ›Vater‹ dieser großen Familie, und fragte: »Wo ist Nicolino?« Er hatte dem Maresciallo von diesem Siebenjährigen erzählt, während sich der Wagen bergauf mühte. Ein Kind, sexuell mißbraucht vom Stiefvater, der dann später die Mutter umbrachte. Die kleine Schar teilte sich, Nicolino erschien und fragte: »Wer bist du?«
    Der Staatsanwalt erklärte es ihm und sagte: »Ich habe gehört, daß du gestern hier eingezogen bist, und da dachte ich, ich komme mal vorbei und schaue, wie’s dir geht. Und das ist Maresciallo Guarnaccia.«
    »Ich bleibe hier.« Beim Anblick einer Uniform hatte sich der Kleine an seinen ›Vater‹ gedrückt, der ihm beruhigend die Hand auf die Schulter legte. »Und das ist jetzt mein Papa.«
    »Gut. Wir wollten auch noch Enkeleda besuchen.«
    »Ich weiß, wo sie ist. Wenn ihr wollt, kann ich euch hinbringen.«
    »Aber gern.«
    Nicolino führte sie über einen Feldweg und dann eine grasbewachsene Böschung hinunter. Das sei eine Abkürzung, erklärte er und bot ihnen, ganz der kleine Hausherr, die Hand als Stütze. Wilde Narzissen nickten im Wind, und der Blick schweifte ungehindert meilenweit über die Talsenke. Auf dem unteren Weg angekommen, blieb Nicolino stehen und warnte sie im Flüsterton: »Jetzt leise sein. Sie mistet die Kaninchenställe aus. Und da mag sie’s nicht, wenn man Krach macht, wegen der Jungen.«
    »Keine Sorge, wir sind mucksmäuschenstill«, flüsterte der Staatsanwalt zurück.
    Die Kaninchenställe standen in langer Reihe links vom Weg, der so schmal war, daß sie hintereinandergehen mußten. Zuerst entdeckten sie Enkeleda gar nicht, so still kauerte die dunkel gekleidete Gestalt zwischen den Verschlagen. Aber dann hielt der Staatsanwalt inne und drehte sich nach dem Maresciallo um.
    »Schauen Sie sie nur an«, flüsterte er, sobald Guarnaccia herangekommen war.
    Die Aluminiumkrücke, die das Gehwägelchen ersetzt hatte, lehnte am ersten Stall. Enkeleda kauerte ein Stück weiter vorn. Ihr dunkles Haar war schon ein gutes Stück nachgewachsen und ringelte sich in weichen kindlichen Locken über ihrem Kragen, während sie sich über etwas beugte, das sie in den hohlen Händen hielt. Es dauerte einen Moment, ehe sie die Besucher wahrnahm. Dann wandte sie den Kopf und sah den dreien entgegen. Ihre Augen leuchteten vor Staunen über das Wunder des winzigen, braunweiß gefleckten Kaninchenbabys, das sich zitternd in ihre Hand schmiegte. Sie schwankte ein bißchen, als sie sich umwandte, und da der Boden überdies noch recht uneben war, streckte der Maresciallo ihr fürsorglich die Hand entgegen. Sie aber deutete die Geste anders und hielt ihm ihren kleinen Schützling hin, damit er ihn sich ansehen könne. Vorsichtig – aber mit einer Vorsicht, die einzig dem kleinen Kaninchen galt –, ging sie dem Maresciallo entgegen, ein Lächeln auf den Lippen.
    Wie es sich ergab, war es schon nach fünf Uhr, als der Maresciallo endlich auf seine Wache zurückkam. Er sperrte die Tür auf, und dann stand er, die Schlüssel noch in der Hand, baß erstaunt im Warteraum.
    »Ja, ich bin’s. Es ist lange her. Haben Sie mich etwa am Ende vergessen?«
    Wie hätte man sie vergessen können – Dori mit ihrem schimmernden Blondhaar und den vollen, roten Lippen. Er hätte sie überall erkannt, auch wenn ihre atemberaubend langen Beine jetzt in schlichten Jeans steckten.
    »Natürlich habe ich Sie nicht vergessen! Bloß, was machen Sie hier? Aber kommen Sie erst mal rein, kommen Sie in mein Büro.«
    Als sie ihm gegenübersaß und immer noch keine Erklärung anbot, fragte er: »Was ist mit dem Baby? Junge oder Mädchen?«
    »Weiß nicht. Hab’s im fünften Monat verloren. Danach war ich ewig lange krank. Einmal und nie wieder.«
    »Das tut mir leid, Dori. Aber sagen Sie nicht ›nie wieder‹. Das geht vorbei, Sie werden schon sehen.«
    »Nein. Ich kann keine Kinder mehr kriegen, und das ist auch gut
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