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Mord allein macht auch nicht glücklich: Ein Provinzkrimi (German Edition)

Mord allein macht auch nicht glücklich: Ein Provinzkrimi (German Edition)

Titel: Mord allein macht auch nicht glücklich: Ein Provinzkrimi (German Edition)
Autoren: Maximo Duncker
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Was zuvor geschah
    Es hatte sich einiges getan im Leben Kai van Harms. Zwei Jahre hatten gereicht, um einen völlig neuen Menschen aus ihm zu machen. Jahrelang ein angesehener Literaturkritiker der traditionsreichsten Westberliner Tageszeitung, war er im Januar 2010 Knall auf Fall entlassen worden. Und das war durchaus wörtlich zu nehmen. Denn seinem Rauswurf, den der Zeitungsverlag mit der üblichen Jammerei über das Internet und die Gratiskultur und den daraus folgenden Sparzwängen begründet hatte, war eine handfeste Explosion der Kreuzberger Redaktionsetage vorangegangen. Jemand hatte einen Sprengsatz in der Redaktion deponiert und zwar, wie sich später herausstellte, direkt unter Kai van Harms Schreibtisch. Wenn er heute, zwei Jahre nach dem Ereignis, daran dachte, wurden ihm die Knie fast noch weicher als damals, bekam er Herzrasen und feuchte Hände. Warum ausgerechnet unter seinem Tisch? War das Zufall gewesen oder ein Zeichen?
    Die Detonation in den frühen Morgenstunden jedenfalls hatte das gesamte Viertel erschüttert. Statiker hatten später empfohlen, das Redaktionsgebäude abzureißen. Und so war es mittlerweile auch geschehen. Dort, wo van Harm lange und erfolgreiche Berufsjahre verbracht hatte, stand nun einer der neuen Eigentumswohnungsbunker, die alle ein bisschen nach Altersheim aussahen, egal wo sie errichtet wurden in Berlin, ob im Prenzlauer Berg, Friedrichshain oder Nordneukölln. Glatter, heller Beton, dunkelgerahmte Riesenfenster, angepappte, ausladende Balkone, auf denen sich zur Not auch ein Rollstuhl wenden ließ.
    Das Schlimmste allerdings an jenem klirrenden Januarmorgen war eine abgetrennte Hand gewesen, die van Harm zufällig aus dem Explosionsschutt zog, während er nach seinem heruntergefallenen Handy gesucht hatte. Eine Frauenhand. Viel mehr wusste man nicht. Es war eine verdammte Schande, dass die Polizei bis heute nicht hatte herausfinden können, was es mit dieser Hand auf sich hatte.
    Seiner Gattin Constanze hatte er noch eine ganze Weile den Rauswurf verschwiegen. Sie saß im Berliner Abgeordnetenhaus für eine ökologischen Partei, die gern von Beamten gewählt wurde und von Lehrern, und die van Harm stets nur »Die Guten« nannte, weil er sie nicht bei ihrem richtigen Namen nennen wollte. Wofür es keinen wirklichen Grund gab. Irgendwann hatte Constanze das mit seiner Arbeitslosigkeit natürlich trotzdem herausbekommen, was für Kai van Harm der Startschuss gewesen war, sich gehen zu lassen. Von nun an kaufte er nicht mehr ein, er kochte nicht mehr für die Familie, was er vorher mit einer gewissen Begeisterung stets getan hatte. Er redete nicht mehr mit ihr. Der Graben, der sich zwischen Kai auf der einen Seite und Constanze und den Kindern auf der anderen Seite auftat, wurde täglich breiter. Das war zu sehen und zwar ohne große Mühe.
    So konnte es nicht ewig weitergehen. Eines Tages hatte Kai daher die bürgerliche Altbauwohnung am Kreuzberger Paul-Lincke-Ufer verlassen und war Richtung Sonnenallee nach Südneukölln gezogen. Da, wo die arabischen Großfamilien den Ton angaben, von denen man häufig in der Zeitung las, wenn sie sich Massenschlägereien untereinander lieferten, wo türkische und libanesische Läden das Straßenbild dominierten, wo die verbliebenen deutschen Proleten in der Minderheit waren, ebenso wie Studenten und Künstler, die es eher in den angesagten Norden des Stadtbezirks zog, der jetzt schon in den internationalen Reiseführern als hippe Ausgehmeile angepriesen wurde.
    Zwei Zimmer zur Miete genügten van Harm durchaus. Hier wollte er sich sammeln, überlegen, was er in Zukunft tun konnte, ganz allgemein seine seelische Verfassung stabilisieren. Er brauchte ein paar Wochen, um sich an seine neue Umgebung zu gewöhnen. An das Raue, den Dreck, die ungehobelten Manieren. An die spöttischen Blicke der Türkenjungs, wenn er in italienischen Schuhen, Anzug und Mantel beim Discounter an der Kasse stand. Aber er besaß keine andere Garderobe, und er hatte auch kein Geld, um sich hässlichere, schäbigere Sachen zu kaufen, mit denen er weniger aufgefallen wäre. Doch es hatte nicht so recht klappen wollen mit dem neuen Leben. Statt frische Kraft zu schöpfen, versank van Harm in Trübsinn und Melancholie. Er wartete im Grunde nur darauf, dass sein Konto leer sein würde, denn Bares bekam er in jener Zeit keines mehr vom Amt, nachdem er ein Jahr lang Arbeitslosengeld bezogen hatte. Um das Hartz-Almosen zu beantragen, war er noch nicht verzweifelt genug.
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