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Das goldene Meer

Das goldene Meer

Titel: Das goldene Meer
Autoren: Heinz G. Konsalik
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    Neunzehn Nächte und neunzehn Tage waren sie auf dem Meer. Jetzt, in der zwanzigsten Nacht, wußten sie: Wir müssen sterben.
    Sie waren dreiundvierzig Menschen auf einem flachen, seeuntüchtigen, halb verrotteten hölzernen Flußboot; zwölf Kinder, vierzehn Frauen und siebzehn Männer. In die Bootsmitte hatten sie einen niedrigen Holzverschlag gebaut. Darin lagen die kleineren Kinder, die schwächeren Frauen und die hochschwangere Thi Trung Linh, deren Mann Cuong am Heck neben dem stummen Motor saß und in die tiefschwarze Nacht starrte.
    Bis zu dieser Nacht hatten Lam Van Xuong und die anderen gehofft, von einem der vielen Handelsschiffe, die auf der Schiffahrtsroute Singapur – Hongkong hin- und herfuhren, entdeckt und an Bord genommen zu werden. Aber die Hoffnung, diese verzweifelte Hoffnung, in ein neues Leben flüchten zu können, hatte sich als ein Irrtum erwiesen. Zwar war die Wasserstraße nach Hongkong oder Singapur wirklich eine Straße, auf der Tag und Nacht die großen Schiffe ihre Lasten transportierten. Doch nicht eines stoppte die Maschinen, um die winkenden, schreienden, weinenden Menschen aus dem winzigen Boot aufzunehmen, sie zu retten vor dem Verdursten, dem Verhungern, dem Ausdörren und dem Ertrinken. Nicht, daß man die Verzweifelten in den Wellenbergen übersah. Man sah sie genau. Oft fuhren die Handelsschiffe in fünfzig oder sogar zwanzig Meter Entfernung an dem kleinen Flußboot vorbei. Die Winkenden und Schreienden konnten sehen, wie man sie von der Reling oder der Brücke aus betrachtete, wie sich die Ferngläser auf sie richteten, wie man auf sie zeigte und über sie sprach. Und dann rauschte das große Schiff an ihnen vorbei, schickte noch einige Wellen, die den Kahn gefährlich schaukeln ließen, und entfernte sich.
    Das Leben flüchtete vor den Flüchtlingen. Neunzehn Tage und neunzehn Nächte lang. Xuong zählte zweiundvierzig Handelsschiffe und Tanker, die an ihnen vorbeizogen, ohne sie zu beachten. »Auch darauf sind Menschen«, sagte er einmal, als wieder ein Containerschiff in kaum dreißig Meter Entfernung an ihnen vorbeidröhnte, ohne die Maschinen anzuhalten. »Ich frage mich nur: Was für Menschen? Haben sie ein Herz in der Brust, oder nur noch ein Räderwerk?«
    Lam Van Xuong konnte so sprechen – er war ein Lehrer, ein kluger Mann also, und weil er so klug war, hatte man ihn zum ›Kommandanten‹ des Bootes gemacht. Er konnte auch den Kompaß lesen, und er war es gewesen, der vorgeschlagen hatte, zur Route Singapur – Hongkong zu fahren, wo man sie bestimmt an Bord nehmen würde. Begeistert hatten alle zugestimmt. Das war wirklich die Rettung von aller Qual und Verfolgung, von Willkür und Zwang. Menschen, die das Leid nachempfanden, würden sie mitnehmen in ein neues, freies Leben.
    Und diese Menschen fuhren nun an ihnen vorbei … neunzehn Tage lang.
    Vor vierzehn Tagen hatte eine große Welle, die über den Bug des Bootes schwappte, Xuong den lebenswichtigen Kompaß aus der Hand geschlagen. Seitdem benutzte Xuong seine Armbanduhr und die Sonne als Kompaß. Sie blieben in der Nähe der Seestraße, steckten nachts eine Fackel an, um auf sich aufmerksam zu machen, winkten mit Hemden, Kleidern und Tüchern, wenn ein Schiff an ihnen vorbeifuhr, und kauerten sich dann wieder entmutigt in ihrer Zehn-Meter-Holzschale zusammen.
    Jetzt, in der zwanzigsten Nacht, fragte Cuong, der Mechaniker, den klugen Lehrer Xuong: »Wie machen wir es?«
    »Was?«
    »Das Sterben.«
    »Wir haben noch für zwei Tage Wasser.« Xuong kam zum Heck und setzte sich neben Cuong auf den Holzkasten, unter dem der Motor montiert war. »Für jeden dreimal täglich drei Löffel voll Wasser.«
    »Und dann? Wir treiben ab. Seit drei Tagen treiben wir ab. Wieder zurück zur Küste. Warum helfen uns diese Menschen nicht? Wenn sie uns nicht an Bord haben wollen, könnten sie uns doch ein Faß Benzin rüberwerfen. Aber sie fahren weiter. Xuong, sollen wir zuerst die Kinder töten, dann die Frauen und dann uns? Du bist ein kluger Mann, gib uns einen letzten Rat.«
    »Du könntest Thi töten?«
    »Es ist besser, als wenn sie und das Kind in ihrem Leib verdorren. Es gibt nur einen Tod, und wir können ihn uns aussuchen …«
    »Hast du mit Thi darüber schon gesprochen?«
    »Wer spricht davon? Der Tod sitzt bei uns, das wissen wir.« Cuong stützte sich auf das mit einem Seil festgebundene Steuerruder und starrte in die undurchdringliche Dunkelheit. Das flackernde Licht der Fackel drang nicht einmal bis zum
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